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Bild: Hendrik Nix.

Keine Angst zu sterben – Sterbebegleiterin Johanna Klug über die Schönheit, nicht vor dem Leben wegzulaufen

Johanna Klug begleitet seit ihrem 16. Lebensjahr Menschen auf ihrem letzten Weg. Die Autorin, Trauer- und Sterbegleiterin empfindet dieses Engagement als ein Privileg, das sie näher ans Leben gebracht hat. Im Qiio-Interview spricht Johanna über ihre Erfahrungen mit der Tabuisierung des Todes, selbstbestimmtem Sterben und der Endlichkeit. 

Hast du Angst vor dem Tod?

Ich habe in den letzten Jahren so viele Menschen in den Tod begleitet, dass mir klar geworden ist, dass ich keine Angst vor dem Tod haben muss. Für mich ist der Tod eher so etwas wie das nächste große Abenteuer, weil wir ja nicht wissen, was danach kommt. Das macht es spannend. Wir wissen ja auch nicht, was uns noch im Leben erwartet. Eigentlich sterben wir während unseres Lebens schon viele kleine Tode. Jedes neue Kapitel ist ein Abschied und auch ein Neuanfang. Wieso soll das mit dem Tod anders sein? Wovor ich aber Angst habe, ist, wie mein Umfeld damit umgeht, wenn ich nicht mehr da bin. Aber ich selbst fürchte mich nicht vor dem Tod. 

Sollten wir uns öfter und vielleicht auch intensiver mit dem Tod beschäftigen?

Es würde uns allen guttun, den Tod mehr in unsere Gesellschaft zu integrieren. Denn so toll ich Hospize, Palliativstationen und Pflegeheime auch finde, so stark institutionalisiert sind diese Einrichtungen. Dort befinden sich Menschen, die gesellschaftlich keinen Nutzen mehr haben. Das klingt hart, aber es ist die Realität. Menschen mit Behinderungen, sterbende, alte oder kranke Menschen passen nicht in unsere Leistungsgesellschaft und erfüllen keine Funktion mehr. Sie werden aus unserem Alltag verdrängt. Und obwohl die meisten Menschen gerne zuhause sterben würden, stirbt die Mehrheit in Krankenhäusern, abseits der Gesellschaft. Das trägt nicht gerade dazu bei, dass das Sterben sichtbar gemacht wird.

“Obwohl die meisten Menschen gerne zuhause sterben würden, stirbt die Mehrheit in Krankenhäusern, abseits der Gesellschaft. Das trägt nicht gerade dazu bei, dass das Sterben sichtbar gemacht wird”, sagt Johanna Klug. Bild: Tomasz Sienicki (public domain).

Wie bist du dazu gekommen, dich so jung als Sterbebegleiterin zu engagieren?

Bevor ich mit 20 auf die Palliativstation gekommen bin, habe ich mit 16 zwei Jahre lang neben der Schulte in einem Altenheim gearbeitet. Dann wurde mir klar: Ich möchte Sterbende begleiten. Im Altenheim habe ich so viel Zeit verbracht, dass es ein großer Teil meines Lebens wurde. Im Prinzip habe ich da schon Sterbebegleitung gemacht, ohne es zu wissen. Die Menschen sind mir schnell ans Herz gewachsen und es war einfach schön, mit Menschen zusammen zu sein, mit denen ich sonst gar nicht in Kontakt kommen würde. Ich hatte dort auch meine erste Erfahrung mit dem Tod, als ich die Leiche eines Mannes, der einen Schlaganfall hatte, auf der Toilette fand. 

Wie war das für dich?

Diesen Anblick werde ich sicher nicht vergessen. Schnell kam eine Schwester, hat mich an sich gedrückt und mich gar nicht mehr losgelassen. Ich hatte das Gefühl, sie war von der Situation stärker überfordert als ich. Danach war es still, es fühlte sich so an, als läge ein dichter Nebel über der Station. Über den verstorbenen Mann wurde nie wieder gesprochen und niemand hat mich gefragt, wie es mir damit ging – dabei war ich wie gesagt erst 16. Aber am krassesten war für mich, wie damit umgegangen wurde. Sofort kamen zwei Bestatter und haben ihn möglichst still und leise abgeholt, sodass niemand etwas mitkriegt. Dabei ist das Sterben in Pflegeheimen schon fast Alltag. Trotzdem wird oft gesagt: “Geht bitte unten durch den Keller und parkt nicht vor dem Haupteingang, sondern da hinten bei den Mülltonnen.” Dadurch wird der Tod unsichtbar gemacht, obwohl er tagtäglich stattfindet.

Der Tod durch die Hintertür – das sagt schon viel über unsere Gesellschaft aus. 

Ich finde, wir vergessen viel zu oft, dass wir irgendwann auch diese alten Menschen sein werden. Würden beispielsweise Christian Lindner oder Jens Spahn ihre politischen Überzeugungen auch so vertreten, wenn sie persönlich mit dem Tod konfrontiert werden? Ich habe das Gefühl, die sollten auch mal eine Woche auf einer Palliativstation hospitieren – und dann reden wir nochmal. Das Sterben ist auch politisch ganz weit weg – und das darf nicht sein, denn es ist Teil unseres Lebens. Und wenn wir das rigoros ausklammern, können wir auch nicht ganzheitlich leben, weil ein wichtiges Puzzlestück fehlt.

Ist es ein Symptom der Trauer, dass wir den Tod unter den Teppich kehren? So eine Art Schutzmechanismus? 

Wir dürfen den Tod nicht in einen mysteriösen Nebel hüllen. Es ist wichtig, dass irgendwie Raum dafür gemacht wird und gesagt wird: Wir reden da jetzt drüber. Manchmal ist es auch ein Schutzmechanismus, das erst mal von sich wegzuschieben, weil es schmerzhaft ist. Aber ich denke, es ist vor allem Hilflosigkeit, damit umzugehen. Denn wir lernen ja nicht, wie man mit solchen Gefühlen umgeht. Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft, sind auf Funktion und Konsum ausgerichtet. Die Gesellschaft erwartet von uns, immer happy zu sein und zu funktionieren. Auf Insta oder TikTok sieht man viel Selbstdarstellung und Selbstoptimierung. Grundgefühle wie Trauer, Wut oder Scham sind negativ konnotiert und gehören nicht dazu. Wir lernen von klein auf, dass es nicht gut ist, wütend zu sein, vor allem Mädchen. Bei Jungs ist es dann eher die Traurigkeit, die keinen Raum bekommt. Wenn wir da ansetzen würden, würden wir auch ganz andere Kinder großziehen. Uns fehlt eine Sensibilisierung, was diese scheinbar negativen Gefühle betrifft. Und das ist problematisch, denn diese Gefühle sind wichtig und zeigen, wie menschlich es ist, um Menschen zu trauern oder mal wütend zu sein. Wut kann Kraft und Klarheit geben, wenn wir sie nicht implodieren lassen oder gegen andere Menschen richten. Gleichzeitig ist Trauer für mich auch Liebe, denn wir trauern ja nicht um jemanden, den wir nicht geliebt haben. Deswegen ist es eigentlich etwas Schönes, das aber gesellschaftlich negativ geframed ist.

“Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft, sind auf Funktion und Konsum ausgerichtet. Grundgefühle wie Trauer, Wut oder Scham sind negativ konnotiert und gehören nicht dazu”, so Johanna Klug. Bild: Alex Kotliarskyi.

Verspürst du auch Trauer, wenn du Menschen in den Tod begleitest?

Es ist auf jeden Fall immer sehr intensiv und natürlich berührt es mich. Ich finde, es braucht in der Begleitung eine professionelle Nähe statt einer professionellen Distanz. Ich habe auch schon sehr oft mit Menschen geweint. Und ich finde, das gehört auch dazu. Ich bin ja auch ein Mensch mit all meinen Gefühlen und warum soll ich nicht weinen oder auch mal wütend sein oder lachen? Dadurch wird auch eine Verbundenheit ausgedrückt. Und dadurch kann auch erst eine Tiefe entstehen, die vielleicht vorher gar nicht so möglich wäre. Wenn ich stattdessen eine Schutzmauer um mich herum aufbaue, um bloß nicht verletzt zu werden, bleibe ich immer auf Abstand. Wenn man Menschen nah sein will, muss man sich auch verletzlich zeigen, weil es erst dann die Chance gibt, auf eine tiefere Ebene von Beziehungen zu gelangen.

Wie baust du diese Nähe auf, wenn du eine Person in der Begleitung zum ersten Mal triffst? 

Ich muss gerade daran denken, wie es war, als ich bei dir zur Tür hereingekommen bin: Das war ja auch sofort herzlich und natürlich. Und so mache ich das auch bei den Menschen, die ich begleite. Wenn ich das Zimmer einer sterbenden Person betrete, dann denke ich nicht: ‘Oh mein Gott, diese Person stirbt, was soll ich jetzt sagen?’ Ich behandle diesen Menschen genau wie jeden anderen auch. Es passiert viel zu oft, dass sterbenden Menschen die Rolle des Sterbenden zugeschrieben wird, als ob das so auf ihrer Stirn steht und man über nichts anderes mehr reden kann. Bevor ich das Zimmer betrete, atme ich einmal durch und halte kurz inne. Dann gehe ich rein und stelle mich einfach vor mit: Hallo, ich bin Johanna. Und dann versuche ich, diesen Menschen und die Atmosphäre im Raum erstmal zu spüren. Ich erwarte nichts, sondern schaue einfach, was passiert und lasse mich überraschen. Manchmal schlafen die Menschen auch, oder wollen sich erstmal nicht unterhalten, das ist ganz unterschiedlich. Dann gehe ich einfach wieder. Ich habe das Gefühl, dass sterbende Menschen sehr bei sich sind, ihre Bedürfnisse gut artikulieren und Grenzen setzen können. 

Wie gehen Menschen in deiner Beobachtung mit ihrem eigenen Tod um?

Ganz unterschiedlich. Ich denke, es gibt da verschiedene Phasen, so wie es mir ja auch jeden Tag anders geht. Wenn ich früh aufwache, bin ich müde, mal bin ich schlecht und mal gut gelaunt. Und so ist das bei sterbenden Menschen auch, weil es immer noch ganz normale Menschen sind, nur sind sie in einer anderen Lebensphase. Mal ist es einfacher, den eigenen Tod anzunehmen und an anderen Tagen wieder sehr schwierig. Mir ist es wichtig, da zu sein. Das klingt so banal und einfach, aber das ist es nicht, wenn ich daran denke, wie wenig wir in unserer Gesellschaft oft aus tiefstem Herzen füreinander da sind.

Was hast du aus den Auseinandersetzungen mit dem Tod gelernt?

Dadurch, dass mir bewusst geworden ist, dass das Leben endlich ist, habe ich auch einen anderen Blick auf das Leben bekommen. Deshalb priorisiere ich meine Zeit anders und schaue genau, mit wem ich sie verbringen möchte. Ich schiebe außerdem keine Dinge mehr auf, sondern mache sie einfach. Ich will nicht irgendwann dastehen und mich fragen: Warum habe ich das nicht gemacht? Das Leben ist dafür einfach zu wertvoll und zu kurz. Ich habe so oft erlebt, dass mir sowohl alte als auch junge Menschen gesagt haben, dass sie zu viel gearbeitet und zu wenig Zeit mit Familie und Freund:innen verbracht haben. Und diese Dinge kann man später nicht mehr rückgängig machen. Oft sagen mir auch gerade ältere Menschen: Mach es anders als ich. 

Die Gesetzentwürfe zum selbstbestimmten Sterben sind im Juli im Bundestag gescheitert. Wie stehst du zum selbstbestimmten Sterben? 

Die Diskussion über selbstbestimmtes Sterben wird meistens auf den Zeitpunkt des Todes geschoben. Aber ich finde, wir müssen den Blick ausweiten und uns fragen, wie selbstbestimmt wir überhaupt leben. Ich denke nicht, dass jemand anderes über das eigene Leben oder den Tod bestimmen sollte. Mein Leben, mein Tod. Natürlich braucht es dafür einen gut ausgearbeiteten Gesetzesentwurf. Aber an anderen Ländern, die bereits Zugang zu Sterbehilfe ermöglichen, sieht man, dass die Nachfrage nicht plötzlich enorm steigt. Trotzdem wird das Argument, Zugang zu Sterbehilfe führe zu einer erhöhten Nachfrage nach Sterbehilfe, immer wieder in die Debatte hereingebracht. Das entspricht aber einfach nicht der Realität. Besonders im Alter steigt die Suizidrate, weil sich alte Menschen in unserer Leistungsgesellschaft nicht mehr gesehen und ernst genommen fühlen. In dieser Diskussion geht es also nicht nur um die Sterbehilfe – es geht darum, dass wir einander in der Gesellschaft nicht sehen. Es braucht einen Wandel und eine Anerkennung dessen, dass nicht jeder Mensch leben möchte, und dass nicht jeder Mensch so leben möchte – und dass das okay ist.

“Die Menschen haben Angst davor, nicht mehr gesehen und gebraucht zu werden, nicht mehr jung, attraktiv und sexy zu sein. Da frage ich mich: Sind wir überhaupt jemals gesehen worden?” Bild: Hendrik Nix.

Wie stehst du zu Maßnahmen, die darauf abzielen, das Leben zu verlängern und den Tod auszutricksen?

Das zeugt von einer wahnsinnigen Angst vor dem Zerfall. Es geht darum, sich haltbar zu machen, wie Nahrung. Und wenn ich an H-Milch denke, wird mir ehrlich gesagt ein bisschen schlecht. Die Menschen haben Angst davor, nicht mehr gesehen und gebraucht zu werden, nicht mehr jung, attraktiv und sexy zu sein. Da frage ich mich: Sind wir überhaupt jemals gesehen worden? Der Wunsch, ewig zu leben, ist letztlich auch eine Klassenfrage. Denn nicht jede:r hat das Geld, sich einfrieren zu lassen, einen Personal Trainer oder Ernährungsberatung zu leisten. Aber der Tod macht uns alle gleich. Im Angesicht des Todes sind wir alle nur Menschen – und das ist auch die Ebene, auf der wir uns begegnen sollten. Außerdem: Wenn ich 200 Jahre alt werden könnte, würden ja trotzdem alle um mich herum sterben. Und dann würde ich in einer Welt leben, in der ich gar nicht mehr zurecht komme. Ich habe das Gefühl, die Konsequenzen dieses Wunsches sind nicht wirklich weitergedacht worden. Hauptsache, ich sterbe nicht – aber wieso ist das Ich so wichtig?

Wieso ist aus deiner Sicht das Sterben so wichtig?

Alles um uns herum ist der Endlichkeit unterworfen. Der Sommer wird zum Herbst und der Herbst wird zum Winter. Mit dem Frühling entsteht neues Leben. Warum möchte der Mensch sich über die Natur stellen? Alles auf der Welt unterliegt einem ewigen Kreislauf. Ein Leben geht, ein anderes kommt. Ich finde es beruhigend, das zu wissen. Menschen auf dem letzten Weg begleiten zu dürfen, ist deshalb aus meiner Perspektive ein großes Geschenk. Wenn ich mich immer wieder darin verliere, ewig leben zu wollen, dann renne ich ja eigentlich auch vor dem Leben davon, oder?

Johanna Klug ist Autorin und ausgebildete Sterbe- und Trauerbegleiterin. Für Lesungen, Workshops und Seminare ist sie im gesamten deutschsprachigem Raum unterwegs. Wenn sie sich nicht gerade mit der Endlichkeit beschäftigt, reist sie gerne, schreibt oder verbringt Zeit mit Freund:innen und Familie. Ihr erstes Buch Mehr vom Leben erschien 2021 im Kösel Verlag. Ihr zweites Buch Liebe den ersten Tag vom Rest deines Lebens 2022 im Gräfe & Unzer Verlag.