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Foto: Alicia Steels

Overtourism – Die Schattenseite des neuen Reisefiebers

“Overtourism“ stellt unsere Welt vor neue Herausforderungen. Ein abenteuerlicher Lösungsansatz.

Vor wenigen Monaten fand die jährliche Reisemesse ITB in Berlin statt.  Als Vielreisender, Journalist und Blogger gehört die Messe seit Jahren zu meinen Pflichtbesuchen. Früher meldeten Länder, Regionen und Städte stolz Besucherrekorde während dieses Jahr die Kehrseite des Booms des ausufernden Massentourismus thematisiert wurde. Obwohl diese Problematik seit Mitte der Siebzigerjahre immer wieder diskutiert wird, vor allem mit Fokus auf Umweltschutz, scheint es noch immer keine eindeutige Lösung zu geben.

In wenigen Jahrzehnten hat sich in der Reisebranche einiges geändert. Wer hätte denn in den Siebzigerjahren gewagt, darüber nachzudenken, dass Flüge innerhalb Europas so wenig kosten wie ein mittelteures Abendessen in einem Restaurant? Oder, dass unzählige Kreuzfahrtschiffe mit bis zu 6.000 Passagieren an Bord zur gleichen Zeit an Häfen anlegen, um tausende Tagesgäste an Land zu spucken?

Instravel – A Photogenic Mass Tourism Experience from Oliver KMIA on Vimeo.

Während man in der Vergangenheit vor allem die Umwelt und die geophysische Belastbarkeit eines Ortes betrachtete, geht es heute zunehmend um die psychische Tragfähigkeit. Das lässt sich am besten mit einem simplen Beispiel erklären: Früher machte man sich Gedanken, wie viele Kreuzfahrtschiffe in die Lagune von Venedig fahren können, ohne dass die Stadt untergehen wird und die ersten Häuser einstürzen. Heute kommt die Komponente hinzu, wie sich wohl die Venezianer fühlen müssen, wenn ihre bezaubernden Gassen nur noch von Touristen genutzt werden. Das Schlimme: Wir als Reisende beschweren uns über die Menschenmassen, sind aber zugleich Teil davon und laden ungeniert das nächste Bild auf unser Instagram-Profil hoch.

Freies Reisen – unter Menschenmassen?

Nun – so zumindest für mich – geht es beim Reisen vor allem auch immer um das Gefühl von Freiheit. Wie aber lässt sich Freiheit spüren, wenn beispielsweise jährlich mehr als 20 Millionen Tages- und Übernachtungsgäste bei gerade mal 55.000 Einwohnern nach Venedig drängen? Die Zahl der Urlauber wird von Jahr zu Jahr größer, wohingegen die Zahl der beliebtesten Sehenswürdigkeiten konstant gleich bleibt. Diese Situation wird sich in den kommenden Jahren noch mehr zuspitzen, da sich der nächste große Wachstumsschub für den Tourismus bereits abzeichnet. Menschen aus Schwellenländern – allen voran aus China – haben begonnen, im großen Stil die Welt zu erkunden. Das bedeutet, dass ca. 200 Millionen Reisende sich Auslandsreisen leisten können.

Venedig liegt schon lange im Schatten der Kreuzfahrt-Riesen. Doch nicht nur die Machen der Stadt zu schaffen, sondern auch die Menschenmassen aus aller Welt, die jeden Tag die Stadt überfluten. Foto: Leonardo Yip

Kommen wir aber nochmal zurück zum Ursprungsgedanken, weshalb wir eigentlich reisen? Nämlich, um Ursprünglichkeit und Authentizität zu erleben, ganz zu schweigen von Ruhe und Erholung.

Doch die Realität sieht eben oftmals anders aus: Rom beispielsweise platzt aus allen Nähten, Amsterdam hat seine Probleme mit einer ausufernden Partykultur und dem Homesharing-Anbieter Airbnb. In Barcelona gehen mittlerweile die Einheimischen auf die Straße, um gegen Touristen zu demonstrieren und in Kuba führt die Flut von jährlich 3,5 Millionen Touristen zu Nahrungsmittelknappheit und Preissteigerungen für die Einheimischen, denen es sowieso an vielem fehlt.

Die Touristen sind bekanntlich immer die anderen – Rentner, Pauschalurlauber, früher Japaner, heute Chinesen, Deutsche, Spanier und Polen, während man sich selbst schnell zu den Locals zählt, nur weil man sich in der Wohnung eines Einheimischen einquartiert hat. Doch jeder von uns ist Teil des Problems. 

Wie lässt sich das Problem lösen?

Vorab: Ein Patentrezept gibt es nicht. Dafür sind die Regionen und betroffenen Städte zu unterschiedlich. In Barcelona gibt es beispielsweise die Limitierung der Bettenzahl durch Baustopps für Hotels und eine strengere Lizenzierung privater Ferienapartments sowie der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. In Berlin versucht man Touristenströme besser zu steuern, das heißt räumlich und zeitlich zu entzerren. Aus Marketing wird Management eines Reiseziels. Der Service, dessen Aufgabe es war, immer mehr Touristen anzulocken, wandelt sich zu einem Service, der ein gutes Verhältnis zwischen Besuchern und Einheimischen schafft. Doch eine kleine Idee habe ich: Sein Reiseverhalten stets zu hinterfragen und sich zu überlegen, ob man selbst in einer Stadt leben möchte, die hauptsächlich aus Touristen und Ferienwohnungen besteht?

Die Touristen sind bekanntlich immer die anderen – Rentner, Pauschalurlauber, früher Japaner, heute Chinesen, Deutsche, Spanier und Polen, während man sich selbst schnell zu den Locals zählt, nur weil man sich in der Wohnung eines Einheimischen einquartiert hat.” Foto: Elizeu Dias

Außerdem: Sich nicht ständig von billigen Reiseangeboten verführen lassen, einfach mal die eigene Umgebung entdecken. Denn das Abenteuer wartet oft vor der Haustür. Der britische Abenteurer Alastair Humphreys macht es mit seinen sogenannten “Microadventures“ vor. Er bereiste mehrere Jahre auf ganz unterschiedliche Art und Weise die Welt und kam zur Überzeugung, dass eine lange (Flug-)Reise in weit entfernte Länder nicht notwendig ist, um Abenteuer zu erleben. Und du brauchst zudem keine teure Ausrüstung, nicht wahnsinnig viel Zeit und kannst es jederzeit in deinen Alltag integrieren. Humphreys machte beispielsweise im Winter eine Wanderung entlang der M25, die London umkreist. Auch, wenn jene Autobahn bekannt dafür ist, hässlich und langweilig zu sein, ein Abenteuer war es allemal. Wie Goethe schon sagte: Das Gute liegt so nah. Vielleicht wären “Microadventures“ eine gute Option für die Zukunft des Tourismus.

Und selbstverständlich – das ist mir bewusst – schafft Tourismus viele Arbeitsplätze und Wohlstand, bekämpft im besten Fall sogar Armut, aber dann sollte der Tourismus für jeden von Vorteil sein.

Literaturempfehlung: Marco d´Eramo: Die Welt im Selfie – Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters, erschienen bei Suhrkamp, 2018.