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Bild: Aus der Serie "Aval" © Keerthana Kunnath

Queer Indien – Interview mit Fotografin Keerthana Kunnath über gelebte und versteckte Queerness in Indien

Die indische Fotografin Keerthana Kunnath, kurz Kee, zerschlägt mit ihren Bildern heteronormative Weltanschauungen. Im Gespräch mit Qiio erzählt sie, was queer sein in Indien bedeutet, wie problematisch Bollywood-Filme sind und von welchen Klischees Europäer:innen sich verabschieden sollten.

Kee, wie war es für dich, als queere Frau in Indien aufzuwachsen?

Während meiner Kindheit wurden die Themen Queerness und Sexualität nie offen diskutiert. Sie waren immer seltsame Tabus, selbst in der Schule oder in den Medien. Ich habe mich deshalb oft dabei ertappt, meine eigenen Gefühle zu hinterfragen, und nahm an, dass ich lediglich eine Anomalie war – schließlich habe ich etwa in indischen Filmen, die stark heteronormativ sind, nie eine Darstellung von queeren Identitäten gesehen. Und obwohl ich im College schwule Freund:innen kennengelernt habe, fiel es mir trotzdem noch schwer, mich auszudrücken und meine Identität zu erkunden. Das war bis in meine späten Teenagerjahre so. Erst als ich nach London gezogen bin, um mein Studium dort fortzusetzen, wurde mir klar, dass es wahrscheinlich andere Menschen gibt, die meine Erfahrungen teilen. Das hat mich dazu motiviert, die Bedeutung von Queer-Identitäten in meiner Kunst zu erforschen. Mein Ziel ist es, die Gespräche darüber zu normalisieren, einen offenen Dialog zu fördern. Als Künstlerin weiß ich, wie viel Macht bestimmte Darstellungen haben und wie sie ein Gefühl der Zugehörigkeit für diejenigen schaffen können, die sich ausgegrenzt gefühlt haben. Ich versuche also einen Raum zu schaffen, in dem sich jeder gesehen und gehört fühlen kann.

Aus der Serie Aval © Keerthana Kunnath

Wie sieht das Leben von queeren Personen in Indien in Bezug auf Sexualität und Geschlechtsidentität aus?

In Indien bestimmen gesellschaftliche Normen und Erwartungen, wie sich der Einzelne zu verhalten hat, insbesondere im Hinblick auf die Geschlechterrollen. Von Frauen wird zum Beispiel erwartet, dass sie sich bescheiden kleiden oder es vermeiden, zu offen und durchsetzungsfähig zu sein. Für Personen, die sich als queer identifizieren, kann das eine besondere Herausforderung darstellen, weil sie nicht den heteronormativen Normen der indischen Gesellschaft entsprechen. Außerdem werden der persönliche Raum und die persönlichen Grenzen in Indien nicht immer respektiert. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass Fremde oder entfernte Verwandte unaufgeforderte Bemerkungen über das Aussehen oder Verhalten einer Person machen. Für Queers ist das besonders schwierig, weil sie es ohnehin schon schwer haben, für das, was sie sind, akzeptiert zu werden. Diese Situation betrifft nicht nur mich – viele Frauen, die ich aus Indien kenne, sind mit ähnlichen Problemen konfrontiert.

Welchen Einfluss hatte der Kolonialismus auf die Unterdrückung von LGBTQIA+ Gemeinschaften in Indien?

Der Kolonialismus hatte einen erheblichen Einfluss auf Geschlecht und Sexualität in Indien. Vor der Kolonialisierung gab eine lange Geschichte der Akzeptanz und des Respekts für unterschiedliche geschlechtliche und sexuelle Identitäten. In alten Texten und in der Kunst findet man beispielsweise Hinweise auf ein drittes Geschlecht. In der hinduistischen Mythologie gibt es sogar einen Gott namens “Ardhanareshawan”, der halb männlich und halb weiblich ist. Während der britischen Kolonialzeit kamen allerdings westliche Ideen und Moralvorstellungen – einschließlich einer strikten binären Auffassung von Geschlecht und Sexualität –, die der indischen Gesellschaft aufgezwungen wurden. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Indien schließlich britische Gesetze eingeführt, die gleichgeschlechtliches Verhalten unter Strafe stellten. Diese Gesetze sind auch noch lange nach der Unabhängigkeit Indiens von der britischen Herrschaft in Kraft geblieben und haben auch eine soziale Stigmatisierung nach sich gezogen. LGBTQIA+-Personen in Indien spüren die Nachwirkungen davon noch heute.

In den Fotoserien “Aval” und “Njan” zeigst du Menschen, die Teil der LGBTQIA+-Community in Indien und Südasien sind. Wie hast du diese Menschen kennengelernt?

Aus der Serie Aval © Keerthana Kunnath

Ich habe sie in London durch Mitglieder:innen der südasiatischen Gemeinschaft getroffen und einige von ihnen haben sich bereit erklärt, sich von mir fotografieren zu lassen. Bei unseren Treffen haben wir unsere Geschichten über das Aufwachsen ausgetauscht. Dabei ist mir klar geworden, wie viel wir trotz unserer unterschiedlichen Herkunft gemeinsam hatten. Da es in der Community nicht viele queere Paare gab, sind einige der Paare auf den Bildern inszeniert, um eine neue Erzählung zu schaffen. Für mich war es dabei wichtig, unsere Geschichten in den Fokus zu setzen, weil wir uns dadurch nähergekommen sind. Als ich sie fotografierte, hatte ich das Gefühl, auch einen Teil von mir selbst festzuhalten.

In Europa denken viele Menschen sofort an Bollywood-Filme, wenn sie Indien hören. Findest du das problematisch?

Aus der Serie Njan © Keerthana Kunnath

Bollywood-Filme sind weltweit beliebt. Nicht nur Außenstehende assoziieren Indien damit – viele Inder:innen tun das auch. Problematisch daran ist, dass das, was man in diesen Filmen sieht, nicht das wahre Leben widerspiegelt. Sie sind auf eine patriarchalische Gesellschaft zugeschnitten, bieten eine männliche Perspektive. Ein Beispiel ist die “Item Number” – das ist ein energiegeladener Song, in dem übersexualisierte Frauen für eine Männermenge tanzen. Solche Szenen sind seit Jahren Bestandteil indischer Filme und werden millionenfach gesehen. In den Filmen werden im Wesentlichen heteronormative Beziehungen verkauft und die LGBTQIA+-Gemeinschaft ist nicht vertreten. In meiner Fotoserie habe ich ähnliche Szenarien wie in den Bollywood-Filmen geschaffen, allerdings mit zwei Personen desselben Geschlechts, um dieses Narrativ in Frage zu stellen und die Sichtbarkeit der marginalisierten Gemeinschaften zu erhöhen.

In einem Interview mit WePresent sagst du, dass du mit deiner Arbeit eine Welt erschaffst, in der du dich zugehörig fühlst. Was muss sich verändern, damit du dich in dieser Welt zugehörig fühlen kannst?

Aus der Serie Njan © Keerthana Kunnath

Die gesellschaftlichen Normen müssen sich ändern. In einer idealen Welt wären meine Sexualität und mein Körper meine eigene Angelegenheit und Entscheidung. Wenn wir das verbessern können, könnte das einen tiefgreifenden Einfluss auf das Leben der Menschen haben. Es könnte den Weg für eine Welt ebnen, in der der Einzelne nicht so tun muss, als ob er dazugehört, oder versuchen muss, andere zu beeindrucken, indem er sich den gesellschaftlichen Erwartungen anpasst.

Was möchtest du der Welt mit deiner fotografischen Arbeit mitteilen?

Ich möchte wichtige Gespräche über Themen wie unsere Körper, Sexualitäten, Geschlechter und Communities anstoßen. Es ist generell wichtig, Themen anzusprechen, die nicht nur mich selbst betreffen, sondern auch andere in einem größeren Rahmen. Indem ich mich zu Wort melde, hoffe ich, jemandem zu helfen, der vielleicht ähnliche Probleme hat. In meiner neuesten Serie geht es zum Beispiel um psychische Gesundheit und die Tabus, die sie umgeben, was in der südasiatischen Gemeinschaft kein gängiges Thema ist. Ich glaube, wenn wir uns nicht mit unseren Gefühlen auseinandersetzen, können wir kein erfülltes Leben führen. Meine Arbeit hat dabei auch mich verändert, weil sie mir eine Plattform bietet, um eine Gemeinschaft aufzubauen und mit anderen in Kontakt zu treten, die ähnliche Probleme bewältigen müssen.

Wie wurden deine bisherigen Arbeiten in Indien aufgenommen?

Gut, einige äußerten sogar ihre Freude darüber, dass jemand aus ihrer Heimatstadt so offen über bestimmte Themen spricht. Auch im Ausland haben Menschen als Reaktion auf meine Arbeit ihre Geschichten mit mir geteilt, was unglaublich befriedigend ist, denn es bedeutet, dass meine Arbeit ihr Ziel erreicht hat – nämlich die Menschen zu ermutigen, sich mitzuteilen und als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Einige Mitglieder:innen meiner eigenen Familie haben meine Arbeit allerdings nicht verstanden. Ich habe versucht, es ihnen zu erklären, aber manchmal haben Menschen mentale Blockaden, die sie daran hindern, Veränderungen zu akzeptieren. Ich weiß auch, dass Veränderungen nicht von heute auf morgen geschehen. Aber ich glaube daran, dass ich alles in meiner Macht stehende tun kann, um positive Veränderungen zu fördern.

Aus der Serie Aval © Keerthana Kunnath

Du lebst und arbeitest nun schon seit einiger Zeit in London. Hat sich dein Verhältnis zu und deine Sicht auf Indien dadurch verändert? 

Ja, beides hat sich deutlich verändert. Ich fühle mich meinem Heimatland zwar immer noch sehr verbunden, aber meine Erfahrungen in Indien waren eine Herausforderung, weil ich mein wahres Ich nicht zum Ausdruck bringen konnte und mich durch gesellschaftliche Erwartungen eingeengt gefühlt habe. Ich ärgerte mich oft über den Mangel an Freiheit und den Druck, der auf Frauen ausgeübt wurde, sich an bestimmte Rollen und Verhaltensweisen anzupassen. Mein Auslandsaufenthalt hat jedoch eine neue Perspektive darauf ermöglicht. Ich verstehe jetzt, dass viele Menschen in Indien nicht die gleichen Chancen haben wie ich. Sie wissen vielleicht nicht einmal, dass sie bestimmte Möglichkeiten haben, weil sie gesellschaftlich konditioniert sind und Angst haben, für sich selbst einzustehen. Dadurch, dass ich jetzt außerhalb von Indien lebe, habe ich ein klareres, einfühlsameres Verständnis für das Land und seine Menschen gewonnen, und ich hoffe, dass ich mit meiner Fotografie zu einem positiven Wandel beitragen kann.

Als Künstlerin weiß Keerthana Kunnath, wie viel Macht bestimmte Darstellungen haben und wie sie ein Gefühl der Zugehörigkeit für diejenigen schaffen können, die sich ausgegrenzt fühlen. Bild: privat

Was sollten die Leser:innen von Qiio über Indien wissen? Von welchen Erzählungen und Bildern sollten sie sich trennen?

Viele Leute haben nur ein begrenztes Verständnis von Indien und seiner Kultur. Sie sehen es nur als einen Ort der Exotik und des scharfen Essens oder des Taj Mahal. Dabei ist Indien ein unglaublich vielfältiges Land mit deutlichen regionalen Unterschieden in Sprache, Kunst und Kultur. Als jemand, der aus dem südlichen Bundesstaat Kerala stammt, kann ich bestätigen, dass wir uns stark von anderen Teilen des Landes unterscheiden. Es werden Hunderte von Sprachen gesprochen, jede Region hat ihr eigenes Kino, und es gibt viele aufstrebende Künstler:innen, die sich mit wichtigen sozialen Themen befassen. Um Indien also wirklich zu verstehen, ist es wichtig, das Land durch die Brille indischer Künstler:innen und ihrer einzigartigen Perspektiven zu betrachten.