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Renaissance der Wassergeburt: Wenn Schwangere selbstbestimmt gebären

Zehn Monate lang wachsen unsere menschlichen Zellen in der Gebärmutter heran, umgeben von Fruchtwasser. Schwerelosigkeit und Wärme begleiten uns während unserer Entstehung, warum also nicht in den ersten Momenten unseres Lebens? Studien zeigen: Zumindest die Gebärenden sind nach Wassergeburten zufriedener.

Josy Peukert kniet in der Brandung. Umspült von weißer Gischt veratmet sie Wehe um Wehe. Die strahlende Sonne Nicaraguas wärmt ihre Haut, während ihre Kontraktionen beinahe den Rhythmus der Wellen annehmen. Bald ist es vollbracht: Ihr Sohn kommt zur Welt. Die ersten Sekunden seines Lebens verbringt Bodhi Amor Ocean Cornelius im Pazifischen Ozean. Langsam hebt Josy ihren Sohn aus dem warmen Wasser in ihre Arme. Im Pazifischen Ozean zu gebären, hatte sie von langer Hand geplant. Als Doula, also nichtmedizinische Geburtshelferin, begleitet sie seit Jahren Entbindungen und kennt sich so auch mit ihrem eigenen Körper und den Anzeichen einer fortschreitenden Geburt aus. Als ihre Wehen nur wenige Stunden zuvor an einem Samstagmorgen losgehen, macht sie sich nicht wie andere Schwangere auf den Weg ins Kranken- oder Geburtshaus. Stattdessen hatte sie sich für eine Alleingeburt im Wasser entschieden. Einzig mit ihrem Mann und einem Korb voller Utensilien fährt Josy zum beinahe menschenleeren Strand. Ein Video, das primär der persönlichen Dokumentation galt und zu bürokratischen Zwecken diente, machte den persönlichen Familienmoment später der Welt zugänglich. Denn Josy hat eine Botschaft an andere Schwangere da draußen: „Wassergeburt ist der sanfteste Übergang bei dieser so essentiell wichtigen Transformation“, sagt sie. Die Nachricht kommt an – das Video geht viral, global berichten Medien über Josys Geschichte. Ihre Geburt polarisiert: Die einen bewundern Josy für ihren Mut und ihr Selbstvertrauen, die anderen bezeichnen ihre Entscheidung als fahrlässig und risikoreich.

Eine vergessene Tradition

Trotz ihrer langen Tradition geriet die Wassergeburt in der Moderne aus dem Blick der Medizin. Das erste dokumentierte Beispiel einer Wassergeburt in der modernen westlichen Welt im frühen 19. Jahrhundert demonstriert: Das warme Wasser kann die Schmerzen der Mutter lindern und die Geburt nachdrücklich vorantreiben. Bild: Olivia Anne Snyder

Die Reaktionen auf Josys Geburt stehen symptomatisch für einen größeren Diskurs, der die Gynäkologie und Geburtshilfe seit Jahrzehnten umtreibt. Denn Wassergeburten erleben eine kontroverse Renaissance. Entbindungen im Wasser haben in vielen Kulturen eine lange Tradition. So scheinen Steingravierungen der alten Ägypter darauf hinzuweisen, dass Wassergeburten dort schon vor 8.000 Jahren an der Tagesordnung standen. In der minoischen Gesellschaft Kretas sollen bereits 2.700 vor Christus Geburtstempel mit Wasserbecken ausgestattet worden sein. Auch Erzählungen des Chumash-Stammes aus Kalifornien und der Maoris aus Neuseeland attestieren der Praktik eine lange Vorgeschichte. Einzig in der modernen Medizin blieb es lange still um Entbindungen im Wasser. Mehr zufällig fand im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts die erste dokumentierte Wassergeburt der modernen westlichen Welt statt. Einer erschöpften Frau, die seit über 40 Stunden von Wehen geplagt war, empfahl ein Arzt, sich vorübergehend in einem warmen Bad zu entspannen. Doch bevor er sich versah, war das Baby bereits geboren. Entbunden im warmen Bad, das die Schmerzen der Mutter linderte und die Geburt nachdrücklich vorantrieb. Baby und Mutter waren gesund, die nahezu fünfzig Stunden der Geburt überstanden – und trotzdem schlug die Wassergeburt keine großen Wellen. Erst in den 1970ern und 80ern erfuhr die Praktik in westlichen Ländern echtes Interesse, als ein sowjetischer Geburtshelfer sie einsetzte, um Babys vermeintlich intelligenter zu machen. Igor Charkovsky war der Ansicht, Neugeborene würden bei der Geburt aufgrund der plötzlichen Schwerkraft einen Schock erleiden, der sich als Trauma durch ihr kommendes Leben zieht. Aufgrund dieses Schocks könne der Großteil aller Menschen nur auf einen begrenzten Teil des Gehirns zugreifen. Ganz im Gegensatz zu Delfinen und Walen, die im Wasser geboren werden und ihr Gehirn daher besser nutzen können. Wissenschaftlich belegen konnte er seine Theorie bisher nicht.

Einen wissenschaftlichen Standpunkt erforschte derweil der französische Arzt und Geburtshelfer Michel Odent. Er gilt noch heute als einer der wichtigsten Pioniere der Praktik. Als er sich immer intensiver damit beschäftigte, wie er den Gebärenden die Entbindung so angenehm wie möglich machen könne, kam er unweigerlich mit Wassergeburten in Kontakt – und stellte in den 70er-Jahren kurzerhand ein Planschbecken im Kreißsaal auf. 1983 fanden so im Krankenhaus in Pithiviers, in dem Odent damals arbeitete, 100 Wassergeburten statt. Dieses Ereignis nahm er zum Anlass, einen der ersten medizinischen Berichte zur Wassergeburt zu verfassen. Schon damals stellte er fest, dass der Muttermund sich im Geburtsbecken innerhalb von ein bis zwei Stunden öffnet, die erste Phase der Wehen erleichtert und sich die Frauen während der zweiten Phase hemmungsloser dem Bedürfnis zu schreien hingeben. Zudem bestehe laut Odent keine Gefahr, dass das Neugeborene unter Wasser ersticken könne, da es erst bei Kontakt mit der Luft einatmet. Die Gebärende sei im Geburtsbecken von ‚nutzlosen Reizen‘ abgeschottet und eingehüllt in ihren eigenen schützenden Raum, fernab von Schwerkraft.

Das Wasserbecken als selbstbestimmter Safe Space

Dieser besondere Schutzraum im Wasser inspirierte die britische Fotografin Natalie Lennard 2018 zu AQUADURAL. Als Part der Reihe Birth Undisturbed widmete sich Lennard darin der Wassergeburt. Doch anstelle einer realistischen Aufnahme einer Frau im Geburtsbecken entschied sie sich dazu, eine Geburt unter Wasser nachzustellen – und damit den Schutzraum und die essenzielle Bedeutung des Wassers hervorzuheben. „Alles Leben beginnt im Ozean. Unsere ersten Tage verbringen wir in einem riesigen Ozean, tief im Körper unserer Mutter”, sagt die Fotografin. „Das Wasser und sein Gefäß bilden eine Grenze um die Frau herum, so dass die Geburt unmittelbar interventionslos wird“, erklärt Lennard den Safe Space, den die Wassergeburt Gebärenden schenkt.

Ethel Burns, leitende Dozentin für Hebammenwesen an der Oxford School of Nursing and Midwifery, teilt Lennards Auffassung. „Das Wasserbecken bietet einen persönlichen Schutzraum um die Gebärende herum. Es dient metaphorisch als ihr Haus, bei dem wir um Erlaubnis bitten müssen, bevor wir eintreten. Im Gegensatz dazu können wir Frauen viel schneller berühren, wenn sie auf einem Bett liegen.“ Darüber hinaus bezeichnet sie die tragende Kraft des Wassers als wichtigen Vorteil einer Wassergeburt – sie wirkt der Schwerkraft entgegen und entlastet die Schwangere so. Burns trug maßgeblich dazu bei, dass das Krankenhaus in Oxford 1990 das erste sonderangefertigte Geburtsbecken des Vereinigten Königreichs bekam. Auch erkannte sie schon damals den Bedarf an medizinischen Daten zu Wassergeburten. In den nächsten Jahrzehnten fertigte sie ebenso wie eine Vielzahl von Kolleg:innen relevante Studien an, die das Potential von Wassergeburten deutlich machten. Schon 2009 zeigte eine Sammelstudie: Wassergeburten verringern die Schmerzen der Geburt und Frauen sind im Anschluss zufriedener mit ihrer Geburtserfahrung. Das hält Burns für essenziell: „Denn wie sich eine Frau fühlt, wenn sie über ihre Geburtserfahrung nachdenkt, ist von grundlegender Bedeutung, weil eine positiv-erinnerte Geburt ihr den Übergang in die Elternschaft erleichtert“, so die Dozentin.

„Alles Leben beginnt im Ozean. Unsere ersten Tage verbringen wir in einem riesigen Ozean, tief im Körper unserer Mutter”, sagt die Fotografin Natalie Lennard. In ihrer eindrucksvollen Serie Birth Undisturbed entschied sie sich dazu, eine Geburt unter Wasser nachzustellen. Bild: © Natalie Lennard

Wunsch nach einer Wassergeburt steigt

Kein Wunder also, dass Wassergeburten im Trend liegen. Für gewöhnlich finden diese nicht wie bei Josy im offenen Meer, sondern in eigens dafür angefertigten Geburtsbecken mit warmem Wasser statt. Das Dresdner Krankenhaus St. Joseph-Stift investiert aktuell in einen ganz neuen Kreißsaal mit einem solchen Becken. Auch das Bethlehem Gesundheitszentrum in Stolberg meldete bereits im Juli 2022 eine steigende Nachfrage an Wassergeburten und verzeichnet ein bis zwei solcher Entbindungen pro Woche. Dennoch gelten Wassergeburten noch heute vielerorts als gefährlich. Einer ihrer entschiedensten Kritiker: Der American Congress of Obstetricians and Gynecologists (ACOG), die größte gynäkologisch-geburtshilfliche Fachgesellschaft der USA. Erst 2016 befand sie in einer Stellungnahme: Trotz der Vorteile, die die Wassergeburt biete, sei sie nicht ausreichend erforscht und solle lediglich im Rahmen ‚gut konzipierter prospektiver Studien‘ angewendet werden. Solange die nötigen Daten nicht vorliegen, empfehle das Kollegium daher Geburten an Land, etwa auf dem Bett, heißt es in dem Text. Wie viele Gebärende sich in den USA über diesen Ratschlag hinwegsetzen, ist unklar. In Deutschland dümpelt die Rate von Wassergeburten im Jahr 2018 bei zwei Prozent. Das befand eine Statistik des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen. Doch der Blick auf eine Umfrage des Portals kinderinfo.net vermittelt ein ganz anderes Bild: Ganze 30 Prozent der befragten werdenden Mütter wollen demnach im Wasser entbinden. Über die Gründe der klaffenden Lücke zwischen Wunsch und Realität kann nur gemutmaßt werden – von mangelnder Versorgung mit geeigneten Becken über eine Restriktion bei Risikogeburten bis hin zur mangelnden statistischen Evidenz ihrer Sicherheit.

Doch eine Metastudie von 2022 könnte die Kritik nun nachdrücklich aushebeln und einer Wiedergeburt der Praktik den Weg ebnen. Eine Gruppe von Wissenschaftler:innen nahm sich unter der Leitung von Ethel Burns den offenen Fragen zur Sicherheit von Wassergeburten an. Sie analysierten rund 160.000 Geburten und untersuchten sie auf die größten Vorurteile und Mythen gegenüber der Entbindung im Wasser. Die Ergebnisse waren eindeutig. Denn tatsächlich verringert eine Wassergeburt die Schmerzen, es werden weniger Medikamente eingesetzt und nach der Geburt verlieren die Gebärenden weniger Blut. Zudem kommt es seltener zu Dammrissen oder -schnitten. 

Für gewöhnlich finden Wassergeburten in eigens dafür angefertigten Geburtsbecken mit warmem Wasser statt. Ethel Burns, leitende Dozentin für Hebammenwesen an der Oxford School of Nursing and Midwifery meint: „Das Wasserbecken bietet einen persönlichen Schutzraum um die Gebärende herum. Es dient metaphorisch als ihr Haus, bei dem wir um Erlaubnis bitten müssen, bevor wir eintreten.“ Bild: Olivia Anne Snyder

Die Geburt im Wasser könnte zukünftig noch viel mehr Gebärende empowern

Sprechen medizinische Einrichtungen im Jahr 2022 noch immer von einem Risiko, das vermeintlich vom Geburtsbecken ausgeht, so womöglich aus Angst, die Geburtsabläufe schrittweise aus der Hand zu geben, nachdem sie sie Jahrhunderte gelenkt und kontrolliert haben. Doch statt einer fremdbestimmten Geburt auf dem Bett sehnen sich immer mehr Schwangere nach einer selbstbestimmten Entbindung umgeben von Wasser – wohlig warm, schwerelos und schützend.

Für die Zukunft wünscht sich Burns eine bessere Berichterstattung zur Wassergeburt, damit anekdotische Erfahrungsberichte von selbstbestimmten Geburten ausreichend wissenschaftlich belegt werden können. Außerdem stellt sie sich Wassergeburt in der Zukunft als vollständig integriertes Betreuungsangebot vor. Egal ob die Schwangeren lediglich für einige Zeit im Becken treiben oder tatsächlich dort entbinden: Schon heute nimmt Burns wahr, dass immer mehr Schwangere während der Entbindung nach Wasser verlangen. All jene, für die die Praktik aufgrund von Risikofaktoren aktuell kategorisch ausgeschlossen wird, könnten zukünftig von der Schmerzlinderung und Schwerelosigkeit des warmen Wassers profitieren.