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Bild: Simon Evans, (CC BY-NC-ND 2.0)

Tiktok-Tics: Können soziale Medien Krankheiten verbreiten?

Zurzeit verbreiten sich auf TikTok Videos, in denen junge Mädchen von Tic-Störungen und dem Tourette-Syndrom berichten. Ärtz:innen beobachten seit Beginn der Pandemie – also seitdem TikTok international besonders erfolgreich ist – einen rasanten Anstieg von Tic-Störungen und Tourette bei Jugendlichen. Was steckt dahinter und welche Rolle spielen soziale Medien bei der Verbreitung psychischer Krankheiten? 

Stell dir vor, du sitzt in der U-Bahn oder im Büro und erfährst, dass dein Sitznachbar Läuse hat. Innerhalb von dreißig Sekunden wird dein Kopf anfangen zu jucken – ganz egal, ob du selbst auch Läuse hast oder nicht. Nur Einbildung? Die Läuse ja, aber das Jucken auf deinem Kopf ist echt. Dass viele Krankheiten sich durch die Ansteckung von Viren und Bakterien verbreiten, wissen wir. Doch dass Krankheiten sich auch sozial „ausbreiten“ können – als Symptome psychogener Krankheiten – ist nur wenigen bekannt. 

Eine psychogene Massenkrankheit ist eine Krankheit, deren Symptome sich verbreiten, ohne, dass es dafür einen ansteckenden Erreger gibt. Stattdessen verbreiten sich die Symptome über den sozialen Kontakt innerhalb einer bestimmten Gruppe. Ein bisschen wie Content in den sozialen Medien, der viral geht. Spätestens seitdem Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen vor den gesundheitlichen Folgen von sozialen Medien gewarnt hat, ist bekannt, dass soziale Medien psychische Krankheiten wie Essstörungen und Depressionen befeuern oder sogar hervorrufen können. Instagram, TikTok & Co. sind bekannt dafür, durch ihre Algorithmen auf toxische Weise Inhalte zu befeuern, die ihre Empfänger:innen in eine endlose Content-Spirale katapultieren können.  

Spätestens seitdem Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen vor den gesundheitlichen Folgen von sozialen Medien gewarnt hat, ist bekannt, dass soziale Medien psychische Krankheiten befeuern können. Aber könnten sie auch an der Verbreitung von psychogenen Massenkrankheiten beteiligt sein? Bild: Office of Senator Richard Blumenthal, gemeinfrei.

Tiktok-Tics: Eine mysteriöse Krankheit?

Ähnlich verhält es sich auch mit den Tiktok-Tics. Auf der Plattform verbreiten sich seit Beginn der Pandemie millionenfach geklickte Videos, in denen Betroffene von Tic-Störungen und Tourette ihren Alltag teilen. Die Videos zeigen überwiegend junge Mädchen in Alltagssituationen, die für die Betroffenen zur Herausforderung werden: Einen Covid-Test durchführen, dem Schulunterricht folgen oder in eine Bar gehen. Das Problem: Je mehr Menschen die besagten Videos anschauen, desto mehr verbreiten sich die Tic-Störungen. 

Schreien, schimpfen, kicken, beißen oder spucken sind einige Beispiele der spontanen Tics, unter denen Betroffene leiden. So auch die 14-jährige Metallica, die seit Beginn der Pandemie mit extremen Tics zu kämpfen hat. Die letzten zwei Jahre waren für die australische Jugendliche nicht einfach, das erzählt sie in einem Video-Beitrag. „Die Lockdowns und meine Freund:innen nicht sehen zu können, das war hart.“ Wie Metallica sind auch unzählige andere Jugendliche weltweit Betroffene einer globalen Gesundheitskrise, die sich während der Pandemie anbahnte. Was die meisten dieser Fälle von Tic-Störungen verbindet: der massive Konsum von Tiktok. 

Mittlerweile wurde die rasante Zunahme von Tic-Störungen bei Jugendlichen seit der Pandemie auch durch Studien wie diese bestätigt. So gaben zwei Londoner Kliniken an, 2019 noch je sechs Fälle von Tic-Störungen pro Jahr registriert zu haben, während sie 2020 und 2021 je vier Fälle pro Woche registrierten – also 150 bis 200 Fällen jährlich, allein in London. 

Der Medizin-Soziologe Robert E. Bartholomew erforscht seit 35 Jahren das Phänomen der sozialen Ansteckung und der psychogenen Massenkrankheiten. In seinen Büchern sammelte Bartholomew tausende Fälle solcher Krankheiten – auch „Massenhysterien“ genannt. „Es ist wie ein umgekehrter Placebo-Effekt: Wenn du glaubst, etwas macht dich krank, kannst du krank werden“, erklärt Bartholomew in einer Kurzdoku. Ginge es nach ihm, müssten Inhalte in den sozialen Medien mit einer Gesundheitswarnung versehen werden. 

Massenhysterie: Ein historisches Phänomen

Das Phänomen der sozialen Ansteckung und der psychogenen Krankheiten lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Im Juli 1518 brach beispielsweise eine Tanzplage im heutigen Straßburg aus, bei der bis zu 400 Menschen wochenlang unaufhörlich tanzten. Die Tanzmanie ebbte erst ab, als Ärzt:innen eingriffen und Betroffene ins Krankenhaus einwiesen. Was sich wie ein lustiger Flashmob anhört, war in Wahrheit gar nicht lustig. Denn in Abwesenheit von ersichtlichen Gründen wurden die Betroffenen als vom Teufel besessen stigmatisiert. 

Das Phänomen der sozialen Ansteckung und der psychogenen Krankheiten lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Im Juli 1518 brach eine Tanzplage im heutigen Straßburg aus, bei der bis zu 400 Menschen wochenlang unaufhörlich tanzten. Die Tanzmanie ebbte erst ab, als Ärzt:innen eingriffen und Betroffene ins Krankenhaus einwiesen. Bild: Pieter Breughel the Younger, Public Domain.

Ein weiteres Beispiel, das noch nicht allzu lang zurückliegt, ist die Tanganjika-Lachepidemie. Am 30. Januar 1962 brachen drei Schülerinnen einer Mädchenschule in Kashasha, Tansania, in Lachen aus und konnten nicht mehr aufhören. Innerhalb kurzer Zeit wurden 95 der 159 Schülerinnen im Alter von 12 bis 18 Jahren „angesteckt“ – und konnten einfach nicht mehr aufhören zu lachen. Es ging so weit, dass die Schule am 18. März vorübergehend geschlossen werden musste. 

„An etwas zu glauben, ist, etwas zu sehen“

„Es ist wichtig, dass wir verstehen, was eine psychogene Krankheit eigentlich ist“, sagt der Arzt Dr. Rakesh Patel. „Es ist, als würde dein Gehirn die Ängste, die Gefühle und den Stress, den du spürst, physisch manifestieren.“ Und mit diesen Emotionen fühlten sich während der Pandemie gerade junge Menschen oft allein gelassen. Zuflucht suchten sie online.

Soziale Ansteckung funktioniert über Vorstellungen, so Bartholomew. „An etwas zu glauben ist, etwas zu sehen“, sagt er. Und zu glauben, das sei eine Fähigkeit, die wir alle besitzen. Somit seien wir alle auch potenzielle Zielscheiben von sozialer Ansteckung. Dabei mache es keinen Unterschied, ob es sich bei den Störungen tatsächlich um Tourette handele, oder ob es psychogene Störungen sind. „Die körperlichen Konsequenzen und das Stigma sind dieselben“, so Bartholomew. 

Die Verbreitungen der Ti(c)kTok-Störungen macht deutlich, welche entscheidende Rolle soziale Medien heute für die mentale Gesundheit spielen: Hier treffen menschliche Phänomene wie psychogene Störungen auf ein junges Publikum und einen Algorithmus, der ihre Ängste befeuert. Bild: Daria Nepriakhina

Screen-based addiction

Die Verbreitungen der Ti(c)kTok-Störungen macht deutlich, welche entscheidende Rolle soziale Medien heute für die mentale Gesundheit spielen: Hier treffen menschliche Phänomene wie psychogene Störungen auf ein junges Publikum und einen Algorithmus, der ihre Ängste befeuert. Den Entzug schaffen in einer Gesellschaft, die auf soziale Medien längst angewiesen ist, nur die wenigsten. Und die, die Smartphones den Rücken zukehren, werden automatisch zu Außenseiter:innen. 

Dabei ist es längst an der Zeit, den Eingriff von Smartphones und Apps in unsere Gesundheit stärker zu kontrollieren, statt sie Algorithmen und großen Tech-Firmen zu überlassen. Denn mittlerweile wächst eine Generation von Menschen in urbanen Räumen heran, die ein Leben ohne Smartphones nie gekannt hat. Gerade sie müssen ihre Emotionen größtenteils mit sich selbst ausmachen und werden dabei allein von Algorithmen angeleitet.  

Mehr zum Einfluss von Technologie auf unser psychisches Wohlbefinden findest du auch in unserem Kompendium Addictive Technology