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Bild: BDX Media

Vergessene Krise Libanon: Wie blickt man in die Zukunft, wenn das eigene Land kollabiert?

Die Bilder von der Explosion am Beiruter Hafen 2020 gingen um die Welt. Und auch, dass das kleine Land im Nahen Osten in einer Wirtschaftskrise steckt, habe ich in der Vergangenheit schon aufgeschnappt. Aber die humanitäre Katastrophe, die sich hier abspielt, wurde mir erst bewusst, als ich im Libanon diverse Gesichter der Krise kennenlernen durfte.

Zunächst einmal: Es darf keine Hierarchie von Leid geben. Ein Mensch in Not ist ein Mensch in Not. Es ist allerdings schier unmöglich, die verschiedenen Krisenherde auf der Welt auch medial abzudecken, ihnen gleich viel Aufmerksamkeit zu schenken. Mittlerweile sprechen die Vereinten Nationen von mittlerweile fast 339 Millionen Menschen weltweit, die auf humanitäre Hilfe und Schutz angewiesen sind. Viele von ihnen leben in Ländern und Regionen, über die weniger berichtet wird und es somit kaum Spendenaufkommen gibt. Damit sich das ändert, hat die Johanniter-Auslandshilfe zusammen mit 30 Hilfsorganisationen und dem Auswärtigen Amt die Kampagne #InDenFokus ins Leben gerufen. Stellvertretend dafür stehen die drei Länder Bangladesch, Südsudan und Libanon als vergessene Krisen. Der Auftakt der Aktion war eine viertägige Reise in den Libanon, um die Akteur:innen der humanitären Hilfe und die Gesichter der vergessenen Krise kennenzulernen. Für mich als Journalistin war es eine Chance, die Zusammenhänge der komplexen Situation in dem kleinen Land zu verstehen.

Rund 2,2 Millionen Libanes:innen – und damit knapp die Hälfte der Bevölkerung – sind derzeit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Wirtschaftskrisen, Pandemie und die Explosion am Beiruter Hafen 2020 haben dem kleinen Land in der Vergangenheit stark zugesetzt, sodass die Folgen noch immer verheerend für die Bevölkerung sind. Bild: K.M. Asad

Doch was ist eigentlich los im Libanon? Ein maroder Staatshaushalt, die wirtschaftlichen Folgen des Coronavirus und die schlimme Explosion am Beiruter Hafen 2020 haben dazu geführt, dass das libanesische Pfund mittlerweile über 90 Prozent an Wert verloren hat – laut Weltbank eine der weltweit schwersten Wirtschaftskrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Abseits von Zahlen bedeutet das: kaum Perspektive und eine große Armut in der Bevölkerung. Rund 2,2 Millionen Libanes:innen – und damit knapp die Hälfte der Bevölkerung – sind derzeit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mittlerweile leben außerdem rund 1,5 Millionen Syrer:innen, die vor dem Bürgerkrieg seit 2012 in den benachbarten Mittelmeerstaat geflohen sind, im Land unter prekären Bedingungen. Und die Weltöffentlichkeit? Die bekommt davon kaum etwas mit. 

Rapper MoTrip nach 12 Jahren wieder in seiner Heimat

Teil der Reisegruppe ist auch Rapper MoTrip. In „Sing mein Song“ auf VOX rappte er vor Millionenpublikum über seine Fluchtgeschichte – durch #indenFokus verarbeitet er sie aber nochmal anders: „Ich bin im Libanon geboren und in Deutschland aufgewachsen”, erzählt der Aachener. “Meine Eltern sind mit meinen Geschwistern und mir 1989 vor dem Krieg geflohen. In Frieden aufzuwachsen, war ein großes Privileg. Ein Privileg, welches vielen Menschen in meinem Geburtsland leider nicht zuteilwurde.” Gemeinsam mit MoTrip besuchten wir verschiedene Projekte der lokalen Partnerorganisationen der Johanniter, darunter ein Geflüchtetencamp in der Nähe der syrischen Grenze und eine Suppenküche für die verarmte Bevölkerung in Beirut. Das Programm war straff – und emotional: Im Gespräch mit den Menschen vor Ort machten wir uns als Gruppe auf die Suche nach der Hoffnung. 

Bild: Daniel Kothöfer
„Ich bin im Libanon geboren und in Deutschland aufgewachsen”, erzählt MoTrip. “Meine Eltern sind mit meinen Geschwistern und mir 1989 vor dem Krieg geflohen. In Frieden aufzuwachsen, war ein großes Privileg. Ein Privileg, welches vielen Menschen in meinem Geburtsland leider nicht zuteilwurde.” Bild: Daniel Kothöfer

“Tatsächlich sind viele Zukunftsvisionen der Menschen außerhalb des Libanons verortet. Viele Menschen träumen davon, das Land hinter sich zu lassen. Und so auch die Probleme hinter sich lassen zu können“, erklärt MoTrip. Und die Zahlen geben ihm leider recht: Rund 75 Prozent der Menschen haben nicht mehr genug zu essen, täglich fällt über Stunden landesweit der Strom aus, was auch die medizinische Versorgung und den Zugang zu Wasser beeinträchtigt. Staatliche Schulen sind seit Beginn des Jahres geschlossen. Die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen sollen im Libanon keinen Zugang zu Bildung haben. Tausende Cafés, Restaurants, Bars und Einzelhändler:innen mussten schließen, knapp 60 Prozent der rund fünf Millionen Einwohner:innen sind arbeitslos. Wenn Konten eingefroren sind, Lohnzahlungen gestoppt oder um ein Vielfaches gedrosselt sind, macht es für die meisten Libanes:innen keinen Sinn mehr, im eigenen Land zu arbeiten. Laut der Nachrichtenagentur AsiaNews wandern seit 2020 pro Monat 10.000 Menschen aus. Der sogenannte „Brain drain”, also die Abwanderung von qualifizierten Leuten wie Wissenschaftler:innen, Forscher:innen und Ärzt:innen, unterstreicht den Perspektivmangel. Lösungen für die wirtschaftliche, institutionelle und soziale Krise des Libanon sind nicht in Sicht.

“Viele Menschen träumen davon, das Land hinter sich zu lassen. Und so auch die Probleme hinter sich lassen zu können“, erklärt Rapper MoTrip. Laut der Nachrichtenagentur AsiaNews wandern seit 2020 pro Monat 10.000 Menschen aus. Der sogenannte „Brain drain”, also die Abwanderung von qualifizierten Leuten wie Wissenschaftler:innen, Forscher:innen und Ärzt:innen, unterstreicht den Perspektivmangel. Bild: Noah Stasch

Mehr Frauen in die Regierung

Das Land durstet nach politischer Hilfe, denn es ist gerade führungslos. Mitte Juni scheiterte die Wahl eines Präsidenten oder einer Präsidentin zum zwölften Mal und auch die Bildung einer neuen Regierung ist bislang an innenpolitischen Machtkämpfen missglückt. Der Grund: Die politischen Spitzenposten werden unter den wichtigsten konfessionellen Gruppen des Landes aufgeteilt und bekämpfen sich gegenseitig. Könnten mehr Frauen an der Macht den Libanon vielleicht weiterbringen? „Ich glaube fest daran! Wir haben es lange Zeit mit einer Mehrheit von Männern versucht, und es hat nicht so gut funktioniert. Geben wir den Frauen eine Chance, sich zu profilieren, und ich bin sicher, dass der Libanon besser dastehen wird. Zumindest werden die Frauen mit einem sauberen Staat beginnen, da sie nicht Teil dieser korrupten Gruppe von Politikern sind“, sagt die Länderbeauftragte von Malteser International,  Mireille Georr. 15 Jahre hat sie für eine Familienstiftung für Sozial- und Bildungsdienste gearbeitet, dann an der französischen Universität von Beirut unterrichtet. Seit 2021 ist sie durch ihr Engagement und ihre Empathie ein nicht mehr wegzudenkender Teil von Malteser International „Viele Frauen sind in finanzieller Hinsicht immer noch von ihren Ehemännern oder Familien abhängig. Je schlimmer die Krise, desto mehr hängt ihr Überleben von anderen Familienmitgliedern ab.”

Bild: Daniel Kothöfer
Das Land durstet nach politischer Hilfe, denn es ist gerade führungslos. Könnten mehr Frauen an der Macht den Libanon vielleicht weiterbringen? Bild: Daniel Kothöfer

Für Veränderung braucht es Ressourcen

Auf der Reise trafen wir aber auch viele Einzelschicksale, die sich Perspektiven erkämpfen: Etwa Ahmad, der vor zwölf Jahren aus Syrien in den Libanon floh und seitdem mit seiner Familie in einem Geflüchtetencamp in Arsal in der Bekaa-Ebene lebt. Gemeinsam mit anderen Syrer:innen und einigen libanesischen Ehrenamtlichen hat er eine freiwillige Feuerwehr gegründet, um Brände in den Lagern löschen zu können. Er erzählt von Selbstermächtigung oder dem Schicksal, das er selbst in die Hand nimmt – in Anbetracht der Menschenrechtslage der Geflüchteten im Land absolut keine Selbstverständlichkeit.

Was machen wir in Deutschland mit vergessenen Krisen? 

Die Verantwortung ließe sich nicht einfach weitergeben wie ein Staffelstab, auf die nächste Generation oder die nächste Regierung übertragen. „Es ist verständlich, dass in Anbetracht der vielen Probleme auf der Welt die ein oder andere Krise aus dem Fokus rückt, Menschen und deren Schicksale in Vergessenheit rücken. Vergessen ist menschlich, aber auch Erinnern ist menschlich“, so Mo-Trip. Auch in meiner journalistischen Arbeit kann es einen Unterschied machen, wenn man Ungerechtigkeit adressiert und Menschen in Notlagen Aufmerksamkeit schenkt. Seit ich in Deutschland bin, versuche ich alles, was ich im Libanon gelernt und gesehen habe, zu veröffentlichen. Meine Recherchen könnt ihr unter anderem hier bei der Taz nachlesen oder direkt auf IndenFokus