In Krisenzeiten überfluten uns die Negativschlagzeilen in Echtzeit überall: Auf dem Handy, im Radio, im Fernsehen. Autorin, Filmemacherin und Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel warnt: Sie könnten uns in eine lähmende Ohnmacht versetzen.
Ronja von Wurmb-Seibel lebte zwei Jahre als Reporterin in Kabul. Umgeben von schlechten Nachrichten, lernte sie dort, Geschichten so zu erzählen, dass sie dem Leser Mut machen. „Scheiße + X” nennt Wurmb-Seibel diese mutmachende Formel. Damit spielt sie darauf an, Probleme und Missstände aufzudecken, aber von Perspektiven und Lösungsansätzen zu begleiten. Ihr neues Buch Wie wir die Welt sehen, erscheint scheinbar zur richtigen Zeit.
Wenn wir von den negativen Nachrichten des Russland-Ukraine Kriegs überflutet werden, überkommt uns eine Ohnmacht, in der wir nicht mehr handlungsfähig sind, argumentiert Wurmb-Seibel. Sie sprach mit uns darüber, warum wir unseren eigenen Medienkonsum überdenken sollten und wie wir Geschichten anders erzählen können.
Dein neues Buch heißt Wie wir die Welt sehen. Wie siehst du denn die Welt?
Obwohl es gerade viele Ereignisse und Entwicklungen gibt, die ich besorgniserregend finde, gibt es auch Anlass zur Hoffnung, und Möglichkeiten, wie wir mit anpacken können, um diese Welt zu verbessern und zu einem Ort zu machen, wo Menschen gleichberechtigt, frei und in Sicherheit leben können.
Du argumentierst, dass übermäßiger Konsum von negativen Nachrichten eigentlich eher Apathie und Verzweiflung erzeugt, statt konstruktiv zu sein. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass wir zu viel informiert sind?
Zu viel würde ich nicht sagen, sondern zu einseitig, weil die meisten Nachrichten ausschließlich negative Informationen transportieren und uns dadurch viel Wissen fehlt. Bei Kriegen und Konflikten wird viel darüber berichtet, wie sie entstehen und verlaufen, aber wir wissen als Gesellschaft fast nichts darüber, wie eigentlich Frieden entsteht, wie Waffenstillstände verhandelt werden und Versöhnung geschieht. Deshalb ist das Problem aus meiner Sicht nicht zu viel Information, sondern eher zu wenig Information bzw. unvollständige Informationen.
Heute morgen las ich bei Sophie Passmann: „Ist es nicht unerträglich dumm und satt, erschlagen zu sein vom Krieg in der eigenen Timeline?“ Damit kritisiert sie den Konsum von Krieg über soziale Medien als Privileg unserer westlichen Welt. Was denkst du darüber?
Dumm finde ich es nicht, ich finde es gut, sich bewusst zu machen, dass viele andere Menschen nicht die Wahl haben, ob sie sich mit Krieg auseinandersetzen, weil sie schlichtweg von ihm bedroht sind. Insofern ist es ein großes Privileg. Aber ich finde, das heißt überhaupt nicht, dass wir uns dem unendlich aussetzen müssen – damit helfen wir niemandem, auch nicht den Menschen vor Ort. Es ist inzwischen breit erforscht, dass negative Nachrichten den Effekt haben, dass wir uns ohnmächtig fühlen und der Überzeugung sind, dass wir sowieso nichts an den Zuständen ändern können und uns dadurch auch viel weniger auflehnen, demonstrieren, unterstützen und aktiv werden. Damit wir uns solidarisch verhalten können, ist es wichtig, dass wir noch genug Kraft haben, um andere zu unterstützen. Damit meine ich nicht, man soll alles verdrängen und vergessen. Schützt euch! Sorgt dafür, dass ihr Pausen macht, wenn es euch zu viel wird, denn wir können nur dann andere Leute unterstützen, wenn wir selbst stabil sind.
Das ist auch der Unterschied zwischen Instagrammern und Tiktokern, die den ganzen Tag lustige Videos aufnehmen, und dem anderen Extrem, nur Negativnachrichten zu konsumieren.
Absolut – und Social Media ist auch nur eine Ebene. Auch bei jemandem, der oder die als Influencer den ganzen Tag lustige Videos macht, wissen wir ja nicht, ob die Person sich nebenbei für Menschen in Gefahr einsetzt. Social Media ist eben auch nur ein Ausschnitt. Es ist ein bisschen platt gesagt, aber es stimmt: Veränderung geht am einfachsten bei uns selbst. Es ist wahnsinnig schwer, Menschen um uns herum zu verändern, aber bei uns selbst können wir einfach viel bewegen und deshalb ist mein Plädoyer immer: Überdenk deinen eigenen Medienkonsum. Wenn wir uns den Folgen bewusster sind und beobachten, wie es uns mit unserem eigenen Medienkonsum geht, finden wir das richtige Maß für uns selbst.
Informationsrezeption ist ja in der Bevölkerung auch nicht gleichmäßig verteilt. Würdest du sagen, dass es bestimmte Bevölkerungsgruppen gibt, die besonders verwundbar sind für negative Schlagzeilen?
Nein, im Gegenteil, es gibt eine Studie, die in mehr als 40 Ländern durchgeführt worden ist, bei der festgestellt wurde, dass wir alle, unabhängig von Alter, sozioökonomischer Schicht, Herkunft oder Bildungsgrad die Welt als viel schlechter einschätzen, als sie tatsächlich ist. Das war sogar so, als eine Gruppe von NobelpreisträgerInnen interviewt worden ist, die einen sehr hohen Bildungsgrad haben. Auch die haben die Welt für viel, viel schlechter eingeschätzt. Nachrichten sind da nicht der einzige Grund, spielen aber eine wichtige Rolle. Das müssen wir uns bewusst machen und gezielt fragen: Wie kann ich mir die Informationen wieder stärker ins Bewusstsein rücken, die mir zeigen, dass die Welt kein hoffnungsloser Ort ist, um überhaupt wieder Möglichkeiten zu sehen, wie wir die Welt mitgestalten können?
Und für dich selbst als Journalistin, wie beherzigst du deinen Ratschlag in Kombination mit deinem Beruf und wo setzt du die Grenzen?
Ich bin ein sehr politischer Mensch und informiere mich, aber tatsächlich konsumiere ich gar keine Nachrichtensendungen. Stattdessen lese ich viele Sachbücher und Studien. Bei aktuelleren Entwicklungen, wie zum Beispiel dem Angriffskrieg von Russland, nehme ich mir am Tag bewusst Zeit, um in Ruhe etwas nachzulesen, oder höre einen Podcast, bei dem ich hintergründig informiert werde. Viele Themen sind ja gar nicht so tagesaktuell wie zum Beispiel die Klimakrise oder soziale Ungleichheit. Diese Themen sind keine Themen, die sich von einem Tag auf den anderen ändern, sie sind aber trotzdem höchst politisch.
Gab es einen Moment, bei dem du gedacht hast, jetzt will ich wirklich nichts mehr von der Welt wissen?
Ja, absolut. Für mich persönlich war dieser Moment letzten August, als die Taliban in Afghanistan die Herrschaft übernommen haben. Ich habe ja eine Zeit lang in Afghanistan gelebt und mich dort sehr wohl gefühlt, viele Freundschaften geschlossen. Und zu sehen, wie innerhalb von wenigen Tagen eine komplette Gesellschaft strikten Regeln und Unterdrückung unterworfen wurde und die Weltgemeinschaft nichts tuend zuschaut, obwohl sie sehr wohl daran beteiligt war, dass es überhaupt dazu kommen konnte, das war für mich erschlagend. Zum einen, weil ich dort viele Menschen kenne und liebe, die akut in Gefahr sind. Zum anderen war die große Untätigkeit aus politischer Sicht extrem ernüchternd. Ich habe in der Zeit paradoxerweise mein Buch zu Ende geschrieben und hatte da einen Moment, in dem ich dachte, was machst du eigentlich? Schreibst du jetzt ein Buch darüber, dass die Welt gar nicht so schlimm ist, wie sie ist, während ich eigentlich das Gefühl hatte, das politisch Schlimmste, was ich bisher in meinem Leben miterlebt habe, passiert gerade? Ich habe dann beim Schreiben gemerkt, dass es auch in so einer schrecklichen Situation immer noch Wege gibt, die wir gehen können, um Dinge zu verändern. Und daraus ist dann ein Gastfamilien-Programm entstanden, das mein Partner und ich gestartet haben, bei dem wir für 15 Familien Visa und Unterkünfte vermitteln konnten. Das hätte ich nicht für möglich gehalten, weil ich in diesem Moment sehr verzweifelt war. Das, was ich zuvor schon beschrieben habe, habe ich dann an mir selbst bemerkt: Wie lähmend diese Ohnmacht sein kann und wie wichtig es eigentlich ist, dass wir uns da immer wieder rausholen.
Da hast du am eigenen Leibe erfahren, was du in deinem Buch beschreibst.
Total, und ich war wirklich verzweifelt. Weil ich mein Buch zu Ende schreiben musste, bin ich quasi durch das Schreiben zurück auf die richtige Bahn gekommen. Dadurch habe ich einen Weg gefunden, mich wieder handlungsfähig zu machen. Und so ist auch meine Erfahrung: Ganz viele Leute wollen sich engagieren, sind aber komplett ausgebrannt, wissen nicht, wo sie anfangen sollen oder haben nicht den Mut, weil sie nicht daran glauben, dass es etwas bringt. Deshalb kann es helfen, wenn wir uns bewusst machen, wie stark negative Nachrichten uns prägen und blockieren.
Neben dem blockierenden Aspekt fällt mir persönlich auf, dass viele Menschen Instagram-Videos oder Nachrichten vom Ukraine-Konflikt mit einer Schaulust konsumieren, die einer aufregenden Netflix-Serie gleicht. Da frage ich mich, ob nicht vielleicht auch Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen, weil wir so viele mediale Inhalte von Konflikten live konsumieren können.
Wenn uns etwas Angst macht, wie zum Beispiel ein Krieg, dann ist der Reflex: dass wir uns mehr dazu informieren wollen. Und durch die negativen Informationen entsteht noch mehr Angst, und wir wollen noch mehr Informationen. Dadurch kommen wir in eine Negativspirale, aus der wir nicht mehr so gut rauskommen, außer wir unterdrücken diesen Reflex ganz bewusst. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Ereignisse entmenschlicht werden, wenn viele Menschen im Spiel sind. Schon bei zwei Menschen können wir wesentlich weniger mitfühlen als bei einem Menschen. Wenn wir dann von hunderttausenden Menschen hören, die auf der Flucht sind, berührt uns das kaum noch, weil dadurch eine Distanz entsteht, die es uns schwer macht, aus menschlicher Sicht zu begreifen, was da gerade passiert.
Deshalb plädierst du für mehr Raum für gute Nachrichten. Wie könnten diese in Zukunft im Journalismus mehr Platz finden?
Mein Plädoyer ist nicht, zwischendurch noch ein paar Good News dazuzumischen, damit es ausgewogen ist. Ich finde es wichtig, über Missstände und Probleme zu berichten. Aber wir sollten auch jedes Mal überlegen: Wie kommen wir da eigentlich raus? Ich habe das abgekürzt auf die Formel „Scheiße plus X”: Bei jedem Problem suchen wir auch nach einer Lösung, einem Vorschlag oder einer Perspektive, wie man da wieder rauskommen könnte.
Beispiel Klimakrise: Wie gehen andere Länder schon besser damit um? Wo haben Regierungen schon bessere Gesetze beschlossen? Wie war der Weg dahin? Wo stehen wir da im Verhältnis und wie wurden Probleme in der Vergangenheit gelöst? Können wir daraus etwas lernen? Das soll jetzt nicht heißen, dass JournalistInnen aktivistisch werden und diese Lösungen selbst finden müssen. In den allermeisten Fällen gibt es schon Ideen oder Lösungsansätze, aber es wird eben nicht über sie berichtet und dadurch entsteht ein Ungleichgewicht. Wir wissen am Ende mehr über gesellschaftliche Probleme und Missstände als über Möglichkeiten, wie wir da wieder rauskommen. Das verhindert Fortschritt. Deshalb ist mein Plädoyer: Kritisch und konstruktiv. Probleme und Missstände müssen unbedingt aufgedeckt werden, aber es ist genauso wesentlich, den Menschen Wissen darüber zu vermitteln, wie wir mit Krieg umgehen können, wie wir Probleme beheben und Missstände verändern können. Auf dieser Seite mangelt es uns momentan massiv an Informationen in eigentlich allen politischen Bereichen.
In welchen Medien funktioniert diese konstruktive Kriegsberichterstattung denn bereits? Oder geht das überhaupt in einem brisanten Moment wie gerade? Wo gibt es den Raum dafür?
Den Raum gibt es auf jeden Fall, den muss man sich einfach nehmen und schaffen. In Deutschland ist es noch nicht so weit verbreitet, in anderen Ländern schon weitaus mehr. In Dänemark und auch in den USA gibt es schon viele Redaktionen, die das umsetzen. In Deutschland gibt es einzelne Sendungen oder Sonderformate, die das ausprobieren. Es gibt noch keine bundesweite Redaktion, die das umsetzt, aber viele JournalistInnen, die es versuchen. Als KonsumentIn kann ich nur empfehlen, die Nachrichten, die man konsumiert, immer wieder zu hinterfragen und zu schauen, ob es einen Lösungsansatz gibt.
Es gibt ja gerade in der aktuellen Nachrichten-Flut immer einige Geschichten, die besonders viral gehen und andere, die Randnotizen bleiben. Zum Beispiel wurde viel kritisiert, dass der Krieg in der Ukraine viel mehr Aufmerksamkeit bekommt als zum Beispiel der Krieg im Jemen. Siehst du eine konstruktive Möglichkeit, wie der Journalismus diesem viralen Ungleichgewicht etwas entgegensetzen kann?
Es ist wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen, dass Nachrichten kein Abbild der Realität sind, sondern nur ein Ausschnitt. Und dieser Ausschnitt wird von JournalistInnen häufig nach bestimmten Faktoren ausgewählt, wie zum Beispiel Negativität, Konflikt, Gewalt, aber auch sowas wie geografische Nähe oder Berühmtheit spielen eine Rolle. Also Dinge, die den KonsumentInnen scheinbar nahestehen. Und dadurch entsteht oft ein Ausschnitt von der Welt, der überhaupt nicht repräsentativ ist. So eine Berichterstattung passiert schnell, weil viele JournalistInnen es gewohnt sind, nach diesen Faktoren zu entscheiden, sodass sie vieles einfach ausblenden. Und natürlich steckt dahinter auch ein rassistisches und eurozentrisches Weltbild. Wir sind es zum Beispiel auch gewohnt, über bestimmte Länder immer nur bestimmte Geschichten zu berichten. Von Afghanistan wird zum Beispiel eigentlich immer nur dann berichtet, wenn es um Krieg geht und über alle anderen Faktoren, die durchaus vorhanden sind, wird gar nicht berichtet. Dadurch entsteht dann über Jahre hinweg das Gefühl: Dort gibt es ja eh nichts anderes als Krieg. Und das ist fatal, weil es sich darauf auswirkt, wie sehr wir mit Menschen aus anderen Ländern mitfühlen. Das spiegelt sich auch jetzt wider, wenn wir merken, dass Geflüchtete aus der Ukraine anders behandelt werden als andere Geflüchtete. Das sind die Folgen von diesem Prinzip, dass wir auf Länder, die uns geografisch nicht so nahestehen, nur punktuell und unvollständig schauen. Dadurch verhärten sich Rassismen, die in konkreten politischen Maßnahmen enden und damit auch darüber bestimmen, wer eine Chance bekommt, zu überleben und wer nicht.
Das neue Buch von Ronja von Wurmb-Seibel “Wie wir die Welt sehen” ist am 28.2.2022 im Kösel Verlag erschienen. Ihr Arbeit kann man auch bei ihr auf Instagram oder Twitter verfolgen.