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Bild: © Johanna Wittig

Warum wir History-Content auf Social Media schon viel früher gebraucht hätten – Interview mit Leonie Schöler

Leonie Schöler erklärt auf Social Media historische Zusammenhänge, die in institutionellen Bildungseinrichtungen wie der Schule oder der Universität keinen Raum bekommen. Im Qiio-Gespräch erzählt die Journalistin und Historikerin, wie Social Media diese Lücke schließen kann. 

Kannst du dich an den Geschichtsunterricht in deiner Schulzeit erinnern? Wie wurden dort Themen wie Kolonialismus behandelt?

In der Schule haben wir über außereuropäische Themen gar nicht gesprochen und über Themen wie Rassismus oder Kolonialismus – wenn überhaupt – nur aus einer sehr eurozentrischen Perspektive. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass wir in der neunten Klasse darüber gesprochen haben, wie die europäischen Länder die Welt unter sich aufgeteilt haben. Wie in dieser Karikatur, in der sich europäische Kolonialisten die Welt unter den Nagel reißen. Aber was Kolonialismus für die kolonialisierten Menschen bedeutet, welche Folgen es heute noch hat, welche Verantwortung Deutschland trägt und welche neokolonialen Strukturen bis heute existieren – darüber haben wir gar nicht gesprochen. Stattdessen ging es um Waren, Ressourcen und Handelsdreiecke.

Hat sich das in der Uni später verändert?

Welche Perspektiven Raum bekommen, hing immer von der jeweiligen Lehrkraft ab. Wenn ich junge Dozent:innen hatte, vor allem solche, die zum Beispiel selbst Women of Color sind, haben diese Perspektiven mehr Raum bekommen. Aber der historische Lehrstuhl beispielsweise bestand fast ausschließlich aus alten, weißen Männern, die die Perspektiven von marginalisierten Menschen nicht mit in den Diskurs gebracht haben. Die haben dann weiter Karl den Großen und die Männer der Antike gelehrt – und das ist für die Geschichte.

“Wenn Geschichte eine weibliche, queere, antikoloniale oder antirassistische Perspektive einnimmt, dann häufig, weil Aktivist:innen dafür sorgen. Diese Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist schon immer Teil von Aktivismus gewesen, aus der Not heraus, dass es ansonsten nicht passiert. Deswegen ist Social Media in meinen Augen super wichtig.” Bild: © Johanna Wittig

Kann Social Media deiner Meinung nach diese Lücke schließen?

Wenn Geschichte eine weibliche, queere, antikoloniale oder antirassistische Perspektive einnimmt, dann häufig, weil Aktivist:innen dafür sorgen. Diese Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist schon immer Teil von Aktivismus gewesen, aus der Not heraus, dass es ansonsten nicht passiert. Social Media ist dafür ein gutes Tool, weil man damit viele Menschen erreichen kann. Gerade bei Themen, die marginalisierte Menschen betreffen, müssen Aktivist:innen viel Überzeugungsarbeit leisten. Über Social Media kann man sich viel effektiver die Aufmerksamkeit beschaffen, die vorher noch in Flugblättern oder selbst herausgegebenen Zeitschriften und Büchern erarbeitet werden musste. Und aus der Community, die man online aufbaut, kann dann mehr entstehen. Deswegen ist Social Media in meinen Augen super wichtig.

Warum funktioniert historischer Content auf Social Media so gut?

Unser Bild von Geschichte ist aus gutem Grund sehr verstaubt und altbacken. Geschichte – das sind irgendwelche alten, weißen Männer, die über sich selbst reden. Das kommt ja nicht von ungefähr, sondern das ist der Eindruck, den man bekommt, wenn man ein Geschichtsbuch aufschlägt. Auf Social Media funktioniert Geschichte häufig anders. Deshalb geht es auch auf meinem Account weniger um große Einzelpersonen, sondern eher um Bewegungen oder Entwicklungen, die bis heute nachwirken. Und da wird häufig die Frage gestellt: Was macht Geschichte mit uns heute noch? Dieses sich-selbst-in-der-Geschichte-finden ist für viele Menschen eine neue Perspektive, weil Geschichte normalerweise etwas war, wo sie gar nicht stattgefunden haben. Weil sie aus der Arbeiter:innenschicht kommen, weil sie Frauen sind, weil sie eine migrantische Geschichte haben oder weil sie queer sind. All diese Faktoren sind Gründe dafür, warum Menschen sich selbst in der Vergangenheit nicht gesehen haben. Geschichte ist somit auch eine Art der Selbstlegitimierung: Wenn ich in der Geschichte stattfinde, dann habe ich auch ein Recht darauf, mich als Teil dieser Gesellschaft zu sehen und Forderungen zu stellen. Und das ist an historischem Content auf Social Media so empowernd. Da geht es darum, sich selbst zu finden und zu empowern, ein Kollektiv zu schaffen, Vorbilder und Antiheld:innen zu finden. Wollen wir wirklich nur erzählen, was Gandhi, Wagner oder Mutter Teresa für tolle Menschen waren, oder wollen wir vielleicht auch einen kritischen Blick auf solche Persönlichkeiten werfen? Wie wollen wir als Gesellschaft über Geschichte reden, wie wollen wir damit umgehen? Das sind wichtige Fragen, die wir uns stellen müssen. Social Media öffnet diesen Diskurs.

Du sprichst in deinen Videos auch über Missstände und debunkst falsche Wahrheiten, zum Beispiel das Medien-Empire von Julian Reichelt oder die falsche Auffassung, Queen Victoria wäre ein Queer-Ally gewesen. Warum ist dir das wichtig?

Mir ist wichtig, dass Menschen begreifen, dass Geschichte auch eine Erzählung ist. Viele historische Fakten sind gut erforscht und belegt. Aber vieles ist nicht eindeutig, ist Auslegungssache oder eine Kontextfrage. Ich möchte dafür sensibilisieren, dass wir uns fragen: Wessen Narrativ lerne ich? Im Geschichtsunterricht in Schulen wird oft nach wie vor von der Entdeckung Amerikas gesprochen. Aus einer rein europäischen Perspektive der frühen Neuzeit ist das nicht komplett falsch. Für Spanien und Portugal war das vielleicht wirklich eine Entdeckung, aber für sehr viel mehr Menschen war es eine Invasion, eine Zerstörung ihrer Lebensgrundlage, ein Raub ihres Landes, ihrer Ressourcen, ihrer heiligen Stätten, ihrer Freiheit und ein Genozid. Diese Perspektive fehlt häufig oder wird nur beiläufig behandelt. Ist dann der Begriff ‘Entdeckung Amerikas’ überhaupt passend, obwohl die Rede von einem Kontinent ist, der schon tausende Jahre zuvor bewohnt und kultiviert worden war? In der Schule habe ich mir diese Frage nicht gestellt, aber das Hinterfragen von historischen Narrativen und das Anbieten von Alternativen sollte eigentlich viel früher passieren. Ich möchte dazu anregen, dass die Menschen selbst nachforschen und ihre eigene Geschichte entdecken.

War das auch deine Motivation, Videos auf TikTok und Instagram zu teilen?

Ehrlich gesagt habe ich damit aus Langeweile angefangen, während der Pandemie. Ich habe mir TikTok heruntergeladen und dann schnell gemerkt, dass dort auch Raum für politische Diskussionen und Bildungsinhalte ist. Und weil deutschsprachige, historische Angebote im Netz oft eurozentrisch sind, habe ich beschlossen, das einfach mal zu probieren. Auf TikTok konnte man Geschichte ein bisschen kürzer, frecher und jugendlicher erzählen, da hatte ich Bock drauf. Schon das dritte und vierte Video ist mit 200.000 Aufrufen oder so viral gegangen, das danach hatte bereits eine halbe Million Views. So viele Menschen hatte ich noch nie erreicht. Ich habe dann gemerkt, dass ich möglichst viel Begeisterung für Geschichte erwecken möchte – ich möchte, dass Geschichte Spaß macht, aber auch kritisch ist und Perspektiven zu Wort kommen lässt, die sonst im historischen Diskurs untergehen.

Stört es dich manchmal, komplexe historische Inhalte in so kurzer Zeit abzuhandeln?

Inhalte kurz zu erklären, ist eine Herausforderung. In Phasen, in denen ich viel auf TikTok poste, nervt mich das manchmal. Aber ich mache ja auch andere Formate, die länger und ausführlicher sind. Ich sehe TikTok da ein bisschen wie eine Ausstellung, in der du ein Exponat siehst und einen kurzen Text dazu liest. Und dieser Text wird dein Geschichtsbild nicht revolutionieren, aber er kann dir vielleicht ein, zwei gute Informationen liefern. Kein Video wird dafür sorgen, dass Menschen von heute auf morgen ein total breites Geschichtswissen haben. Aber das wäre auch mit einem längeren Video nicht der Fall. Meine Idee ist, das historische Interesse zu wecken und ein paar Gedanken oder Fragestellungen mitzugeben.

Soziale Medien sind temporär. Einige sprechen bereits jetzt von der Post-Social-Media-Ära. Wo könnten historische Inhalte in Zukunft präsentiert werden?

Manchmal frage ich mich selbst, wie lange ich das noch weitermachen will. Auch, weil da sehr viel Hass kommt. Aber was ich grundsätzlich für die Zukunft spannend finde, sind Augmented und Virtual Reality. Als Historikerin würde ich natürlich sehr gerne Zeitreisen machen und in die Welt, von der ich erzähle, eintauchen. Wenn wir es über diese Tools schaffen, dass wir in die Vergangenheit reisen, live bei einem Protest dabei sein könnten oder ein Interview mit einer Zeitzeugin führen könnten – das wäre toll. So könnten wir all diese Menschen, die jetzt nicht mehr leben, umfassend dokumentieren und ihre Geschichten erzählen. Ob das Social Media ersetzt? Ich glaube, neue Angebote werden sich entwickeln. Aber Kurzformate werden dabei auch immer relevant sein.

Leonie Schöler ist Journalistin, Moderatorin und studierte Historikerin. Wenn sie nicht gerade auf TikTok oder Instagram über historische Zusammenhänge aufklärt, die im Schulunterricht keinen Raum bekommen haben, schreibt und veröffentlicht sie für diverse TV- und Onlinemedien als Redakteurin und Filmemacherin.