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Mit mehreren Menschen in polyamourösen Wohngemeinschaften zusammen wohnen – ist das die Zukunft des Zusammenlebens? Foto: Axel Bueckert.

Wird Wohnen polyamourös?

‘Ein-Zimmer, Küche, Diele, Bad’ – gehört das schon bald der Vergangenheit an? Denn die Bedeutung von Wohnraum wird durch das Konzept offener Beziehungen zunehmend neu definiert.

Der Rahmen der Möglichkeiten, in denen wir unsere eigenen vier Wände gestalten, hat sich im letzten Jahrhundert kontinuierlich verändert. Mit zwei Fremden zusammenwohnen – das wäre für meine Großeltern noch undenkbar gewesen; heute ist das Normalität. In welchen Wohnsituationen von heute können wir also bereits gesellschaftliche Realität von morgen finden? Eine Spurensuche in alternativen Wohnkonzepten.

Polyamouröse Wohnnomaden

„Tut mir leid, ich bin gerade auf dem Sprung von einer Wohnung in die andere“, die Verbindung fängt an zu knistern, während Kathryn alias Mad Kate sich von ihrer Partner*in verabschiedet, geräuschvoll die Jacke überzieht und ihre Teilzeit-Wohnung in Berlin-Kreuzberg verlässt. Ich warte geduldig am anderen Ende der Leitung und male abwesend Strichmännchen auf meinen Notizblock, bevor ich von der US-amerikanischen Performance-Künstlerin mehr über ihre ungewöhnliche Wohnsituation erfahre.

„Ich habe gesellschaftliche Normen nie verstanden, denn in anderen Kulturen leben Menschen ganz anders“, erklärt die in Washington D.C. als Kathryn Fischer geborene Wahlberlinerin. „Gleichzeitig haben meine Eltern es mich schätzen gelehrt, wenn man trotz Schwierigkeiten und Differenzen zusammenhält.“

Beziehungen führen abseits von den konventionellen Modellen: Mit den Geliebten unter einem oder mehreren Dächern. Foto: Valerie Elash.

Die Künstlerin, die sich als nicht-binär queer identifiziert, lebt in einer kleinen Berliner Wohnung mit ihrem Ex-Mann und einer wechselnden Anzahl anderer Personen, einschließlich ihrer neuen Partner*innen und ihren Kindern. In der gleichen Wohnung lebt mitunter auch Mad Kates Kind, welches sie zusammen mit zwei Freunden aufzieht. „Ich habe primäre und sekundäre Geliebte. Ich bin immer noch in einer Beziehung mit meinem Ex-Mann, nur ist dies keine sexuelle mehr. Gleichzeitig habe ich eine transsexuelle Lebenspartner*in und verschiedene Liebhaber*innen.“

Mad Kate liebt nicht nur polyamourös, sondern lebt auch im „Polyhome“, wie sie es nennt. Denn wie selbstverständlich wechselt sie von der geteilten Wohnung mit ihrem Ex-Mann und ihrem Kind zur gemeinsamen Wohnung mit ihrer Lebenspartner*in. „Ich fühle mich bereits seit jungen Jahren, seit ich mich mehr mit meiner queeren Sexualität auseinandersetze, zu allem hingezogen, was außerhalb der Norm liegt“, erklärt sie.

Mono-Poly-Was?

Obwohl der Begriff als solcher den meisten bekannt sein mag, bleibt die genaue Definition von Polyamorie oftmals verwirrend. „Polyamourös offene Beziehungen oder einvernehmliche nicht-monogame Beziehungen sind Sammelbegriffe“, beschreibt Valeriya Safronova in der New York Times

„Ihr Ausdruck kann eine Reihe von Formen annehmen, die sich sowohl auf die körperliche als auch auf die emotionale Intimität mit sekundären oder tertiären Partnern konzentrieren, obwohl einige Beziehungen sich deutlich auf rein körperliche Aspekte fokussieren und somit dem Swing- oder Gruppensex der 1970er Jahre ähneln“, so Safronova.

Queere Lebensrealitäten der Gegenwart liefern oftmals – vor allem vor der ‘westlichen’ Kulisse des letzten Jahrhunderts – Hinweise darauf, in welche Richtung sich unser gesellschaftliches Wertesystem entwickelt. Foto: Piqsels, gemeinfrei.

Das scheint auf den ersten Blick weit entfernt von den rein monogamen Beziehungskonstrukten zu sein, in denen heutzutage die meisten Menschen weltweit leben. Doch ist die ungewöhnliche Poly-Wohnsituation der queeren Künstlerin womöglich näher an der gesellschaftlichen Realität von morgen, als es zunächst erscheint.

Queere Lebensrealitäten der Gegenwart liefern oftmals – vor allem vor der ‘westlichen’ Kulisse des letzten Jahrhunderts – Hinweise darauf, in welche Richtung sich unser gesellschaftliches Wertesystem entwickelt. Denn für viele Queers bietet die eigene Familie nach ihrem Outing kein Zuhause mehr – beispielsweise aufgrund von Homophobie oder schlichtweg der Abwesenheit von Vorbildern und Bezugspersonen. Das hat dazu geführt, dass queere Wirklichkeit stets eine Lebensweise abseits der heteronormativen Gesellschaft anstreben musste: Anders lieben bedeutet oftmals auch anders wohnen.

Trendsetter wider Willen

Queere Menschen mussten außerhalb gesellschaftlicher Normen neue Lebenskonzepte entwickeln, wie z. B. Kommunen im Zuge der linken Gegenkultur in den 1960er Jahren oder ‘Ballroom-Communities’ im New York der 1980er und 90er Jahre. In diesen schlossen sich vor allem transsexuelle ‘People-of-Color’ zu sogenannten ‘Houses’ zusammen, um sich durch das Teilen der Wohnkosten vor Obdachlosigkeit und gesellschaftlicher Ausgrenzung in Zeiten der AIDS-Krise zu schützen. Heute würde man solche Phänomene schlicht als ‘Shared-Living-Konzept’ betiteln – was damals noch ein Skandal war, ist heute Trend. Aktuell leben rund fünf Millionen Deutsche in Wohngemeinschaften (Quelle: Statista) und sogar ein Drittel aller Student*innen im Alter von 18 bis 30 Jahren teilen sich ihren Wohnraum, so eine Studie des Centrum für Hochschulentwicklung (CHE).

Was ist dann der Wohntrend von morgen? Wird ein fester Wohnsitz in Zukunft überhaupt noch definiert? Oder sind Wohnungen für uns schon bald wie polyamouröse Liebhaber*innen wie im Leben von Mad Kate?

“Schätzungsweise 4 bis 5 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung leben in polyamourösen – oder anderen Formen von offenen Beziehungen.”

„Ich denke, die meisten Menschen, die einvernehmliche, nicht-monogame Beziehungen praktizieren, wären durch die Verwendung des Begriffs ‘trendy’ beleidigt, weil er impliziert, dass Polyamorie eine vorübergehende Modeerscheinung ist“, erklärt Rhonda Balzarini, Doktorandin am Fachbereich Psychologie an der Universität von Western Ontario, im Gespräch mit VICE. „Aber ich stimme zu, dass sie immer sichtbarer wird.“

Eine der wenigen Studien, welche die tatsächliche Anzahl an polyamourösen Beziehungen am Beispiel der Vereinigten Staaten untersucht, stammt aus dem Jahr 2014. Das Forschungsteam der Universität Michigan fand heraus, dass zu diesem Zeitpunkt schätzungsweise 4 bis 5 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung in polyamourösen – oder anderen Formen von offenen Beziehungen leben. Doch auch, wenn sich die Realität hinter diesen Zahlen innerhalb der letzten Jahre weiterentwickelt hat, bleibt Polyamorie zu Beginn der 2020er Jahre wohl eher ein sichtbares Phänomen als eine gesellschaftliche Bewegung – auch in Deutschland. 

In der Lebensrealität meines Berliner Freundes- und Bekanntenkreises stellt ein Poly-Home auch eher ein rein abstraktes Gedankenspiel dar. Zwar ist eine Wohngemeinschaft Großstadt-Normalität, doch einem Poly-Home à la Mad Kate stehen die meisten skeptisch gegenüber, oder können sich dessen mannigfaltige Ausprägungen schlicht nicht vorstellen: „Wer lebt dann genau wo? Und heißt das, ich muss dann mit meinem Ex zusammenwohnen?”. Von 22 befragten Freunden und Bekannten im Alter von 21 bis 38 Jahren befinden sich zwar 12 bereits in einer offenen Beziehung oder können sich eine vorstellen, jedoch praktiziert von diesen keine*r Polyamorie. Nur vier Befragte beschreiben solch eine Beziehung als theoretische Option für ihr Leben. Ein feste*r Partner*in und ein festes Bett scheinen also (vorerst) Standard zu bleiben.

Das Forschungsteam der Universität Michigan fand heraus, dass um 2014 schätzungsweise 4 bis 5 % der US-amerikanischen Bevölkerung in polyamourösen oder anderen Formen von offenen Beziehungen leben. Foto: Bundo Kim.

Spurensuche am Küchentisch

„Mein Freund und ich leben zwar in einer offenen Beziehung, aber ob wir irgendwann in einem Poly-Home leben, hängt für mich stark davon ab, wie sich unsere Beziehung entwickelt“, beschreibt meine Mitbewohnerin Chloé nachdenklich am Küchentisch unserer behaglichen dreier WG in Berlin-Friedrichshain.

Die 33-jährige Expat-Australierin kehrte ihrer Heimat Brisbane und dem angesehenen Job als Anwältin vor drei Jahren den Rücken zu, um Leben und Lieben in Berlin noch einmal neu zu entdecken. „Vielleicht wohnen wir irgendwann als ‘Throuple’ zusammen, aber sehr wahrscheinlich nicht in mehr als einer Wohnung”, sie schmunzelt amüsiert, „Ich kann mir doch gerade einmal eine leisten.“

Probleme der Praxis

Und so ein Poly-Home ist einfach nicht jedermanns oder -fraus Sache – nicht nur aus Kostengründen – das gibt auch Mad Kate zu. „Mein Ex-Mann, seine Partnerin und ich leben wirklich nicht unter luxuriösen Bedingungen. Manche würden unsere Wohnung wahrscheinlich nicht einmal als solch eine bezeichnen: Wir haben keine festen Türen und eigene Zimmer gibt es nicht. Wir mussten außerdem vieles, wie Warmwasser und eine Dusche, selbst installieren, worauf wir mitunter immer noch sparen müssen“, erklärt sie am Telefon, während im Hintergrund eine einfahrende U-Bahn zu hören ist.

„Aber ich definiere ohnehin keinen Raum oder keine Wohnung als mein Eigentum, da für mich persönlich das Schlafen in anderen Betten nicht nur normal, sondern auch erstrebenswert geworden ist“, beschreibt die queere Lebenskünstlerin. „Wechselnde Orte geben mir ein erweitertes Gefühl von Raum, der mich alltäglich umgibt. Doch habe ich mich auch nie bewusst dazu entschieden, so zu wohnen. Das hat sich viel mehr organisch entwickelt.“

Alles kann, nichts muss

Unsere Lebensweise wird sich in Zukunft noch weiter diversifizieren. Die richtige Antwort auf der Suche nach Wohnkonzepten der Zukunft liegt also im Gewirr der Möglichkeiten. Foto: Blake Weyland.

„Mir ist im Grunde egal, ob ich irgendwann nur mit meinem Freund oder mit weiteren Partner*innen zusammenwohne“, sagt Chloé und steht vom Küchentisch auf, „solange es für mich Sinn ergibt und ich mich wohlfühle.“

Die Generationen Y, Z + kehren festgeschriebenen Biografien immer weiter den Rücken zu – ob im Beruf oder im Privaten – noch mehr als die Generation ihrer Eltern. Unsere Lebensweise wird sich in Zukunft noch weiter diversifizieren. Die richtige Antwort auf der Suche nach Wohnkonzepten der Zukunft liegt also im Gewirr der Möglichkeiten.

Der Begriff Poly-Home ist in diesem Durcheinander ein Sammelbegriff – genauso wie auch die namensgebende Polyamorie – für vielfältige Wohnkonzepte, die neu definieren, was als ‘akzeptabler’ Lebensstil angesehen wird: Ob Ex-Paare, die auch nach der Trennung weiterhin zusammenwohnen, multiple polyamouröse Partner*innen unter einem Dach oder die Aufgabe des Eigenheims zugunsten eines Lebens als Wohn-Nomade zwischen primären und sekundären Liebhaber*innen.

Akzeptanz goes Mainstream

‘Ein-Zimmer, Küche, Diele, Bad’ wird nicht vollends verschwinden, doch womöglich genauso normal sein wie drei Mikro-Apartments in verschiedenen Städten für geschäftige Karriere-Menschen, ein Co-Living-Space mit 20 Mitbewohner*innen oder eben ein Poly-Home.

„Ich liebe es, in einer Stadt zu wohnen, in der ich mich aufgrund meiner Wohnsituation nicht stigmatisiert fühlen muss“, erklärt Mad Kate am Ende unseres Telefonats. „Menschen hier besitzen ein so offenes Mindset. Ich kann ihnen meine Situation erklären und stoße nicht auf taube Ohren. Wohnen außerhalb patriarchaler Strukturen ist keine allein queere Erfindung, doch entdeckt unsere Gesellschaft die Vielzahl an möglichen Lebensstilen durch queere Vorbilder wieder.“