Die Seele kann nur im Ganzen ins Reich der Götter aufsteigen und auch nur, wenn der Körper es auch ist. Prothesen – oder zumindest Attrappen von Körperteilen – waren dafür essentiell.
Im Alten Ägypten wurden fehlende Körperteile, sofern eine solche Maßnahme zu Lebzeiten zu teuer war, anschließend nach dem Tod aus Lehm, Harz oder Leinen nachgebildet und vor der Mumifizierung dem toten Körper angefügt. Denn nach einer erfolgreichen Prüfung durch das Totengericht benötigte die Seele einen vollkommenen Leichnam, wenn sie ins Jenseits gelangen durfte. Prothesen trugen aber auch die – zumindest wohlhabenderen – Lebenden: Eine frühe Zehenprothese fand man bei der Tochter eines ägyptischen Priesters mit dem Namen Tabaketenmut in ihrem Grab bei Luxor im südlichen Ägypten. Tabaketenmut lebte von etwa 950 bis 710 v. Chr. und erkrankte offenbar an Diabetes, wodurch sie den rechten großen Zeh verlor. Die Prothese aus Holz und Leder wurde ihr maßgeschneidert zum Laufen in traditionellen Sandalen angepasst und beweist die bemerkenswerten anatomischen und medizinischen Kenntnisse und Expertise des Prothesenbauers.
Kapillaren aus hauchdünnem Golddraht
Eine noch ältere gefundene Prothese stammt bereits aus der Bronzezeit. In der Ausgrabungsstätte Schahr-e Suchte an der iranisch-afghanischen Grenze wurde im Jahr 2006 ein künstliches Auge ausgegraben. Es ist die erste okulare Prothese der Welt. Der Augapfel, etwa zwischen 2.900 und 2.800 v.Chr. gefertigt, ist nicht nur eine erstaunlich detailgetreue Nachbildung. Auf der Oberfläche sind sogar die Kapillaren mit beeindruckender Präzision nachempfunden. Verwendet wurde dafür offenbar feinster Golddraht von nur einem halben Millimeter Durchmesser. Diese Okular-Prothese gehörte wohl einer Frau der Oberschicht oder Priesterin und war etwas ganz Besonderes.
Die Prothese als magisches Instrument
Schließlich hat das Auge bis heute bei den persischen Mystikern eine übernatürliche Bedeutung. Heilige mit besonderen Sehkräften finden sich immer wieder in der iranischen Hagiografie: Sie sehen die Sünder in ihrer eigentlichen Tierform und können mit dem inneren Auge die Ehrlichen von den Heuchlern unterscheiden. Das Interessante daran: In einer modernen Interpretation gelingt dies auch mithilfe einer Augenprothese. In der iranischen TV-Serie „The Final Sin“ aus dem Jahr 2006 wird einem jungen Orthopäden die Hornhaut eines verstorbenen Mystikers implantiert. Fortan erkennt er das wahre Gesicht seiner Mitmenschen abhängig von ihren Taten – entweder als fürchterliche Bestien oder aber umhüllt von Licht.
Prothesen waren von Bedeutung für den Übergang ins Geisterreich oder sie waren mit übernatürlichen Kräften ausgestattet: Ersatzgliedmaße besaßen magische Kräfte, davon war man überzeugt. Die Spiritualität nimmt hier lange vorweg, was sich deutlich später in dem Phänomen der Bionik manifestieren sollte.