Was war früher die Motivation, Ehen zu schließen und Familien zu gründen, wenn nicht die Liebe? Sind Menschen in der Partnerwahl heutzutage frei in ihren Entscheidungen? Und wie könnte die Ehevermittlung der Zukunft aussehen?
Arrangierte Ehen haben in Europa oft den Beigeschmack von Zwang, Kuhhandel und unterdrückten Frauenschicksalen à la Effi Briest. Seit dem Mittelalter und bis weit in die frühe Neuzeit – d. h. bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein – wurden Ehen auch in Mittel- und Westeuropa noch arrangiert. Statt einer individuellen Partnerwahl durch die Heiratskandidaten selbst, war die Ehegatten-Vermittlung Angelegenheit der gesamten Familie, die jeweils – auf beiden Seiten – eine gewinnbringende Verbindung anstrebte.
Der gesellschaftliche Stand der Heiratsfähigen spielte dabei eine entscheidende Rolle auf dem Heiratsmarkt. Die Wahlmöglichkeiten verteilten sich demnach in derselben Gesellschaftsschicht. Der Eintritt in die Ehe war keinesfalls eine Entscheidung aus Liebe, sondern viel mehr eine ökonomische, welche auf die Sicherung, den Erhalt und die Vermehrung der eigenen Ressourcen und derer des Partners ausgerichtet war. Liebe war in der Ehe, wenn überhaupt, ein wünschenswerter Nebeneffekt.
Man war größtenteils der Ansicht, dass ein so empfindliches, unbeständiges und flüchtiges Gefühl wie die Liebe nicht ausreichend war, um eine lebenslange Partnerschaft einzugehen. Und sie vor allem zu erhalten.
Die Liebesheirat ist dagegen eher eine junge Idee und ein Produkt der literarischen Strömung der Romantik (1795 bis ca. 1848). Genauso wie die erste Scheidungswelle im Übrigen auch. Zumindest beschreibt Goethe in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften (1809) nicht nur die Liebe als einen ansteckenden, fiebrigen Infekt, auch die Scheidung wird als eine Art hochinfektiöse Krankheit gehandelt, die nicht selten eine Wechselwirkung des Liebesfiebers darstellt. Der Erfolgszug der Liebesheirat war demnach ein schleichender Prozess.
Insbesondere in Indien steht die arrangierte Ehe nach wie vor hoch im Kurs. Und die Statistik gibt da durchaus ihre Berechtigung: Immerhin bleiben 93 % aller verheirateten indischen Paare auch ihr Leben lang zusammen. Das sind über 30 % mehr als in Deutschland. Dazu erweisen sich die arrangierten Partnerschaften in Indien durchweg als deutlich stabiler als Liebesehen. Dort scheint man sich nach wie vor darüber einig zu sein, dass die Liebe zwar schön ist und erstrebenswert, sie jedoch keinen hinreichenden Grund für die Schließung eines lebenslangen Bundes darstellt.
Das Business der Heiratsvermittlung bietet dabei auch Raum für die Entfaltung neuer Berufe und Spezialisierungen: Um einen geeigneten Partner zu finden, erstellen eigens beauftragte Astrologen Horoskope potenzieller Kandidaten und vergleichen diese im Hinblick auf ihre Kompatibilität. Auch muss die Vereinbarkeit der sozialen Stände und natürlich auch das wirtschaftliche Vermögen nach wie vor berücksichtigt werden. Da der Staat kein soziales Netz anbietet, steht die Absicherung der „fusionierenden” Familien noch vor der Absicht, zärtliche Gefühl füreinander zu entwickeln. Alles, was über eine gewisse Sympathie hinausgeht, ergibt sich im Idealfall im Laufe der Ehe. Ein ausführlicheres Kennenlernen findet erst nach der Hochzeit statt.
Auch wenn der westliche Lebensstil mittlerweile gerade bei der jüngeren Generation in Indien mehr und mehr Einzug hält, ist das Prinzip der Heiratsvermittlung nach wie vor eine gängige und auch beliebte Praxis. Laut Umfragen aus dem Jahr 2013 ziehen 74 % der befragten 18- bis 35-jährigen Inder die arrangierte Ehe einer Liebesheirat vor.
Zurück nach Europa: Während um das Jahr 1960 in Deutschland lediglich 10,66 % der Ehen geschieden wurden, waren es um die letzte Jahrtausendwende schon knapp über die Hälfte (ca. 52 %) aller Ehen. Und auch jetzt liegt die Scheidungsrate noch bei 37,67 %. Hochzeiten sind längst kein Bund mehr „auf Lebenszeit“. Dazu haben sich die Vorzeichen zu stark geändert: Die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen und auch biosoziologische Aspekte wie eine längere Lebenserwartung, haben die Ehe destabilisiert. Ökonomisches Denken spielt für unser Liebesverhalten eher eine unterbewusste Rolle. In der Öffentlichkeit gilt dieser Beweggrund als verpönt. Denn wer will schon sein Leben mit jemandem verbringen, den er nicht liebt?
Unsere moderne Wegwerf-Mentalität in Kombination mit den allgegenwärtigen Angeboten zur Selbstoptimierung hat auch zu der ständig neuen Partnerwahl beigetragen. Der Pool an möglichen Partnern ist immens groß (zumindest in Großstädten) und die finale Entscheidung für jemanden ist bisweilen schwierig – wenn nicht gar unmöglich. Es besteht immer die Chance, jemanden noch Besseren zu finden.
Zusätzlich werden Verliebtheit und Liebe sträflich oft miteinander gleichgesetzt. Wenn Ersteres abgeklungen ist, bedeutet das für viele einen Verlust an Perspektiven für die Zukunft. Dass der Begriff Liebe jedoch sämtliche Stadien von erotischer Anziehung über Verliebtheit bis hin zu fürsorglich zärtlicher Freundschaft umfasst, ist nur wenigen (insbesondere jungen) Menschen geläufig. Hat sich Eros (sexuelle Liebe) aus der Beziehung verabschiedet, muss unbedingt neu gesucht und neu gefunden werden. Warum auch nicht? Die Freiheit – oder die Qual – der Wahl ist uns ja gegeben, oder?
Diese Überbetonung der (erotischen) Liebe als Fundament für eine „lohnende“ Beziehung mag teilweise daher kommen, dass es kaum noch Vorgaben bestehen, wen man heiraten sollte und wen nicht. Sicher, es gibt gewisse persönliche Präferenzen (eine ansprechende Optik, akademische Ausbildung, spannende Berufswahl, ähnliche Werte etc.), aber wir sind längst nicht mehr so stark in ein sozialökonomisches Korsett geschnürt, wie es noch vor 250 Jahren der Fall war.
Doch ist unsere Wahl von Liebesobjekten wirklich so viel subjektiver und freier getroffen als noch im 19. Jahrhundert oder in der indischen Tradition der Heiratsvermittlung? Legen wir unsere Wahl nicht auch immer öfter wieder in die Hände Dritter, wenn wir uns auf Online-Dating-Portalen und Partnervermittlungsseiten ein passendes Gegenüber suchen?
Immerhin sind laut Umfragen ca. 37 % Prozent der Deutschen mindestens einmal in ihrem Leben auf einem Online-Dating-Portal wie ElitePartner, Parship, OkCupid, Tinder, Lovoo und Co. gewesen. Sie alle bieten modernen Singles die Möglichkeit, einen passenden Partner zu finden. Der geneigte Sucher legt sich ein Profil an, lädt ein Abbild seiner selbst hoch und beginnt die Suche – oder lässt sich suchen und manchmal auch finden. Die Nutzung jener Portale erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit und für diejenigen, die sich abmelden, kommen neue Nutzer hinzu.
Während Tinder und Lovoo eher die Favoriten für unverbindlichs Dating mit der Option auf unverbindlichen Sex sind, wird bei ElitePartner und Parship häufiger nach ernsthaften Beziehungen Ausschau gehalten. Mit mehr oder weniger großem Erfolg.
Aber auch hier schöpfen wir längst nicht aus allen Möglichkeiten, die sich uns bieten. Ein Algorithmus sucht anhand der Daten, die wir über uns freigeben (bewusst oder unbewusst), nach geeigneten Partnern für uns. Wie frei ist diese Wahl dann wirklich? Und wenn wir einen solchen Partner heiraten, inwieweit unterscheidet sich eine solche Ehe von einer arrangierten Ehe aus dem 19. Jahrhundert? Der Vergleich scheint gar nicht so weit hergeholt. Denn zwar ist in den seltensten Fällen noch eine ganze Familie an der Partnersuche beteiligt, dennoch mischen dritte Instanzen von außen hier eindeutig mit. Persönliche Vorlieben wie Haarfarbe, Statur, Berufsgruppe, Hobbies oder Musikgeschmack und Lieblingsessen des „idealen“ Partners dienen den Suchalgorithmen als Daten, anhand derer sie dem Sucher eine Auswahl an potenziellen Kandidaten präsentieren. Auch wenn Mutti und Vati den Partner nicht mehr nach sozialer Position und Kontostand aussuchen, solange wir Dating-Portale und -Apps nutzen, tun wir es auch nicht. Zumindest nicht zu 100 %. Das einzige, was uns von den Heiratskandidaten in Indien unterscheidet, ist das unbändige Verlangen nach Liebe – meist in Form von erotischer Anziehung. Und der Zwang, Beziehungen zu beenden, wenn es uns nicht gelungen ist, mit unserem Partner zu bonden, bevor die Verliebtheit nachlässt.
Womöglich wird es in Zukunft eine Art Partnervermittlung – die Chancen für eine App stehen nicht schlecht – geben, die aufgrund einer immer umfassenderen Digitalisierung unseres Privatlebens nicht mehr eine Auswahl an potenziellen Partnern präsentiert, sondern nur noch den Einen: den perfekt ausgerechneten Partner.
Ähnlich wie die Dating-App aus der Serie Black Mirror, die das Beziehungsverhalten der Nutzer analytisch so durchdringt, dass sie ihnen nicht nur Partner vorschlägt, sondern auch Angaben darüber macht, wie lange die Beziehung eigentlich halten kann.
Und mit Verschiebung der eigenen Lebensumstände (Gehalt, gesellschaftliche Stellung etc.) würde immer wieder jemand Neues gefunden werden, der einen noch besser ergänzt. Doch wird die Liebe dabei auf der Strecke bleiben? Nicht unbedingt. Wenn man die Soziologin Eva Illouz fragt, ist die romantische Liebe ohnehin immer mehr an Konsum geknüpft: Man geht teuer Essen, macht dem Partner wertvolle Geschenke und reist ins Wellness-Hotel. Es ist denkbar, dass in Zukunft beide Aspekte, nämlich ökonomische Attraktivität wie auch erotische/ romantische Anziehung, gleichberechtigt in der Partnerwahl der Algorithmen ihren Platz finden. Und auch anders als heute, da wir mit unserer unstillbaren Gier nach nie endender Romantik und Leidenschaft in einer Beziehung sämtliche Aspekte, die einen Partner als geeignet erscheinen lassen, beiseiteschieben. Die Frage ist nur, ob uns das glücklicher machen wird – oder nicht.
Mehr zum Thema Liebe in Zeiten von Algorithmen in unserem Kompendium Digitale Partnerschaft.