Das europäische, besonders britische Eingreifen in die Geschichte Indiens hat das Land langfristig erschüttert und den Weg hin zu einer sozial-gerechten Gesellschaft erschwert. Doch im Leid entwickelte sich auch der Wille, für die eigene Gerechtigkeit zu kämpfen.
Es ist schon erschreckend, wie einfach es ist, in unserer Geschichte Beispiele für soziale Ungerechtigkeit zu finden: Sklaverei, Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, extreme Armut – wo soll man da überhaupt anfangen? Leider kann man diesen Zustand auch nicht außer Acht lassen, wenn man über soziale Gerechtigkeit sprechen möchte. Die wurde nämlich im Laufe unserer Zeit oftmals bereits im Keim erstickt. Der Versuch, sie zu erreichen, bedeutet daher auch einen Befreiungsschlag. Doch die Wunden heilen nur schwer…
Wir reisen ins Indien des 19. Jahrhunderts. Ein dunkles Kapitel, das einen langen und fürchterlichen Leidensweg markiert. Anders kann man die Zeit, in der der südasiatische Subkontinent durch die britische Handelskolonie erobert, beherrscht und maßgeblich geprägt wurde, wohl nicht beschreiben. Denn während England zum Global Player aufsteigen konnte, wurde die indische Bevölkerung unterdrückt, ausgebeutet und noch weiter in das bereits zuvor bestehende Kastensystem gedrängt.
Die Unterdrückung durch Kasten
Zu Beginn der Übernahme durch die BritInnen existierten fast 2000 Kasten, darunter vier Hauptkasten, die eine Rangordnung wie eine Pyramide haben: Oben in der Hierarchie sind die Brahmanen (Priester, Gelehrte), darunter die Kshatriya (höhere Beamte, Krieger, Fürsten), dann folgen die Vaishya (Händler, Bauern, Kaufleute) und ganz unten die Shudra (Knechte, Dienstleister). Dann gibt es noch die Dalits, die aus dem System herausfallen, „Kastenlose“ genannt werden und als „unrein“ gelten. Angehörige der niederen Kasten waren schon damals in der Gesellschaft benachteiligt und lebten in Armut – über Generationen. Denn hierbei handelte es sich um kein Ausstiegsmodell, das Schicksal war quasi mit der Geburt besiegelt.
Eingriffe in gesellschaftliche Strukturen durch den Kolonialismus erschwerten Indiens späteren Kampf um soziale Gerechtigkeit. Das Kastensystem diente den Kolonialherren zum Beispiel als hilfreiches Mittel, um die indische Bevölkerung zu kontrollieren. Aus strategischen Gründen kollaborierte man mit indischen Eliten, um andere Gruppen zu marginalisieren. Durch die Unterwerfung konnte dieses Bewusstsein so tief in die Gesellschaft durchdringen und seine Wurzeln schlagen, sodass es Teil von Indiens Identität wurde. Was verheerend ist, weil sich dadurch die soziale, politische und wirtschaftliche Spaltung verschärft hat.
Die militärische Dominanz der britischen Krone ermöglichte es, Maßnahmen durchzusetzen, die in die Lebensrealitäten der Einheimischen eingreifen konnten und ihnen damit die Eigenständigkeit nahmen. Dazu zählen die Festlegung von Gesetzgebungen, die Umstrukturierung der Landwirtschaft sowie des Steuersystems und die rechtliche Regulierung. Die koloniale Herrschaft konnte zu einem immer größeren Verwaltungsapparat avancieren, was auch einen immensen Eingriff in das Mindset der InderInnen bedeutete. Damit waren sie nämlich keine selbstbestimmten AkteurInnen mehr. Die europäischen Machthaber versuchten, tief in die Psyche einzugreifen und ihre abwertenden Narrative auf die Kolonialisierten zu übertragen, sprachen ihnen Minderwertigkeit, Unwissenheit und politische Unfähigkeit zu. Man stellte die Bevölkerung so dar, als wäre sie reformbedürftig gewesen, als hätte sie das Einschreiten von außen nötig gehabt.
Große Hoffnung von der vermeintlich „großen Seele“?
Diese Denkmuster pflanzten sich tief in die Selbstwahrnehmung der indischen Bevölkerung. Denkmuster, die langfristige Nachwirkungen mit sich zogen und heute noch ziehen. Doch den Wunsch nach einem selbstbestimmten und gerechten Leben konnten diese trotzdem nicht erschüttern. Wir schreiben das Jahr 1947: Ein historisches Jahr, in dem die britische Kolonialherrschaft in Indien ihr Ende nahm, in dem Indiens Unabhängigkeit erklärt wurde. In den Jahren zuvor gelang es Mohandas Karamchand Gandhi, bekannt als Mahatma (Deutsch: Große Seele) Gandhi, die breiten Bevölkerungsschichten zu mobilisieren und eine Revolution in Gang zu setzen. Diese basierte auf einem Grundsatz, an dem nichts zu rütteln war: Widerstand ohne Gewalt.
Von nun an hallte Gandhis Message, den BritInnen nicht mehr zu gehorchen, durch das Land. Wer hätte sich ausmalen können, dass diese später wirklich die Realität widerspiegeln würde? Aber das Ganze brauchte seine Zeit. 1930, vierzehn Jahre vor der Unabhängigkeitserklärung, initiierte der Pazifist zum Beispiel den Salzmarsch, eine etwa 400 Kilometer und über drei Wochen lange Reise zum Meer. Hintergrund war Englands Monopolmacht rund um Salz und deren teure Salzsteuer. Dabei war Salz für InderInnen von größter wirtschaftlicher Bedeutung, ebenso von körperlicher. Das heiße Klima bedeutete nämlich einen hohen Salzbedarf. Als Widerstand brachte Gandhi seine AnhängerInnen deswegen ans Meer, wo sie lernten, ihr eigenes Salz zu gewinnen. Manche verkauften es dann steuerfrei weiter. Für die InderInnen war es ein wichtiger Schritt, der sie der sozialen Gerechtigkeit näher brachte – doch sie zahlten auch einen hohen Preis. Daraufhin wurden rund 50.000 InderInnen verhaftet, Tausende wurden von SoldatInnen brutal zusammengeschlagen.
Sogar auf einen friedvollen Protest antwortete die Kolonialmacht mit Brutalität und Gewalt. Dieses Beispiel ist ein tragisches, denn es zeigt noch einmal, was die indische Bevölkerung auf sich nehmen musste, um für sich einzustehen. Es zeigt aber auch, wie aus tiefem Leid heraus neue Chancen entstehen und Veränderungen bewirkt werden können. Aus dem Salzmarsch resultierte nämlich eine ganze Volksbewegung. Doch es war ein steiniger Weg, der viele Rückschläge bedeutete. Auch für Gandhi, der mehrmals verhaftet wurde und ins Gefängnis musste. Aufgrund seines Engagements wurde er zum Nationalhelden, doch das Bild bröckelt. Und das ist auch richtig so. Heute rücken die Misogynie und die rassistischen Ansichten des Freiheitskämpfers zunehmend in den Fokus. All seine guten Taten können nämlich nicht rechtfertigen, dass er zum Beispiel die Schuld an Vergewaltigungen bei Frauen sah und sich für die Überlegenheit der „weißen Rasse“ aussprach.
Der steinige Weg nach der Unabhängigkeit
Ob Gandhi wirklich eine derart große Rolle im Kampf um Indiens Unabhängigkeit gespielt hat, wie es überwiegend dargestellt wird, ist heute umstritten. So oder so gab England im August 1947 seine Machtübergabe bekannt. Von nun an nur noch bergauf? Nach einem derartigen Eingreifen in die Geschichte ist es für eine Gesellschaft unheimlich schwer, sich zu erholen. Ein neues Kapitel aufzuschlagen, lässt das, was bereits geschrieben ist, ja nicht einfach verschwinden. Koloniale Konstrukte prägen den indischen Alltag bis heute, während die Kluft zwischen den Privilegierten und „dem Rest“ immer größer wird.
Das Kastenwesen bleibt bis dato bestehen. Auch wenn Benachteiligungen durch dieses System verboten sind, sind Kasten immer noch Ausdruck der sozialen Stellung und prägen den Alltag vieler InderInnen. Amnesty International verdeutlicht in einem Bericht, dass Übergriffe und Gewalt gegen Dalits sowie Adivasi, also „Kastenlose“ und UreinwohnerInnen unvermindert anhalten. Die Dalits, denen etwa 240 Millionen Menschen angehören, leben oft in Armut und werden vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Indien hat sich zum Land der Gegensätze entwickelt: Während die Zahl der MillionärInnen sowie die der wohlhabenden Mittel- und Oberschicht wächst, sind fast 15 Prozent der Bevölkerung unterernährt, zwei Drittel leben in Armut, 68,8 Prozent müssen mit weniger als zwei US-Dollar durch den Tag kommen. Und die Frage bleibt: Wie kann man soziale Gerechtigkeit langfristig erreichen, wenn sie bereits im Keim erstickt wurde?