Literatur gibt uns einen Einblick in das Denken von vergangenen Gesellschaften und beantwortet zugleich die Frage: Wo kommen unsere Ideen von Familie her? Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeichnen sich flexible Ideen von Familie bei Goethe und Kleist ab.
Literatur als Zeitzeuge: Familienmodelle der frühen Moderne
Wenn wir mehr über die Familienmodelle der Gegenwart erfahren wollen, lohnt sich ein Blick in die Literaturgeschichte. Literatur funktioniert in zwei Richtungen: Für die Zeitzeugen des Werkes gibt es eine unmittelbare Reflexion der Gegenwart im Text. Welche Rollen werden verhandelt, welche Ideale dargestellt, kritisiert oder gar dekonstruiert? Doch Literatur geht noch weiter, denn sie überlebt ihre Zeitzeugen und wird zum Zeugnis ihrer Zeit. Die Familie hat in der deutschen Literatur der frühen Moderne bereits eine große Rolle gespielt. Waren es doch vor allem auch Familien, die sich in den frühen Romanen und Dramen der Empfindsamkeit wiederfanden.
Sie waren zugleich Gegenstand der Erzählungen und Zielgruppe des Buchmarktes. Eine realistische Erzähltradition machte sich dann ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Aufgabe, die gesellschaftlichen Realitäten abzubilden und damit auch die vorherrschenden Vorstellungen von Familie. Diese Nähe zu gesellschaftlicher Realität behält sich die Literatur in den kommenden Jahrzehnten mal mehr, mal weniger vor. Geistesgeschichtlich hat diese Zeit noch immer einen großen Einfluss auf die Gegenwart: Hier entstehen Ideen von Familie, Subjekt und Freiheit, die uns bis heute prägen.
Das starre Bild einer Familie, die aus Mutter, Vater und Kind (oder Kindern) besteht, wird immer wieder herausgefordert. Nehmen wir beispielsweise Goethes „Wahlverwandtschaften“ (1809), in denen ein Ehepaar (Baron Eduard und seine Frau Charlotte) sich dazu entschließt einen Freund aufzunehmen. Als dann auch noch die Nichte und Ziehtochter Ottilie von Ehefrau Charlotte dazu kommt, mischen sich die Karten zwischen dem Ehepaar und den neuen Gästen neu. Neue Liebesbande entstehen, die Ehe löst sich unweigerlich und langsam auf. In diesem Klassiker der deutschen Literatur sehen wir, wie die Normierung durch das Recht mit den Gefühlen und Sehnsüchten einer gelebten Realität in Konflikt kommt. Doch wir finden noch weitere Texte aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts, die ähnlich flexible Familiengeschichten erzählen.
Von göttlicher Einflussnahme zur Flexibilisierung gezwungen?
Ein spannendes Beispiel für eine (sehr rasante und turbulente) Familiengeschichte ist das „Erdbeben in Chili“ (1806) von Heinrich von Kleist. In dieser kurzen Novelle nimmt Kleist uns in das Königreich Chili (Chile) und dessen Hauptstadt St. Jago mit. Die Novelle ist im 17. Jahrhundert situiert und die Macht der Kirche über die Gesellschaft geht bis hin zur Entscheidung über Leben und Tod. Die junge Josephe hat sich in Jeronimo verliebt, doch ihr Vater billigt die Ehe nicht: Josephe wird schwanger. Ein Erdbeben trifft St. Jago und die ganze Stadt geht zu Grunde. Im weiteren Verlaufen der Novelle kommen die Menschen nach der Katastrophe zusammen, der erzbischöfliche Richterspruch, der Josephe zur Tode verurteilte, scheint vergessen.
Das Erdbeben setzt durch die Katastrophe für eine kurze Zeit die gesellschaftlichen Normen aus und bestärkt die Menschen, die ihre Freiheit außerhalb dieser Normen suchen. Doch die Macht will sich wieder installieren: In der Kirche wird Josephe als Sünderin erkannt, ein Streit eskaliert in ein blutiges Gemetzel. Bei so vielen Wendungen und Wirrungen in Kleists Novelle zeigt sich, wie Menschen auf Katastrophen reagieren. Sie werden adaptiv und flexibel. Doch sobald die Katastrophe abgewendet scheint, das Recht wieder greift, die Normen wieder funktionieren, erstarrt die Familie. Die Verteidigung von kirchlichem Recht (und damit auch der Kernfamilie) geht soweit, dass die Menschen sich lieber gegenseitig umbringen. Zugleich gibt uns Kleist auch eine hoffungsvolle Perspektive mit: Josephes Sohn überlebt und wird von einer neuen Familie adoptiert. So steht er selbst für eine neue, flexible Generation, die noch im Heranwachsen ist.
Lässt die Norm sich aussetzen?
Wenn wir Literatur als Zeitzeugen betrachten, dann können wir hier sehen, dass Familie zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei Kleist und Goethe, zwei wichtigen Denkern ihrer Zeit, als eine flexible Einheit konstruiert wird. Frauen können andere Kinder stillen, Paare adoptieren gerettete Babies, formieren sich entlang ihres Begehrens neu und trotz der kirchlichen und weltlichen Macht, wenn ein Erdbeben eingreift, dann besinnen die Menschen sich auf Bindungen, die das Überleben sichern.
Was bei Kleist wie auch bei Goethe klar wird: Die Bedürfnisse der Menschen sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zumindest in der Literatur, bereits als freie Individuen verankert. Geistesgeschichtlich sind wir hier an einem Punkt, an dem das bürgerliche Subjekt geboren wird: Freiheit und Gefühle stehen weit oben auf der Agenda dieser Literaten. Zugleich wird die Kernfamilie in ihrer starren Konfiguration in Frage gestellt und durch Extremsituationen herausgefordert.