Der Festivalsommer ist abgesagt, bis zum 31. August dürfen keine Großveranstaltungen mehr stattfinden – das Risiko, sich mit dem Coronavirus anzustecken, ist zu hoch. Doch Musiker und Veranstalter haben das Drive-in-Prinzip als Lücke in der Krise für sich entdeckt.
Seit fast zwei Monaten herrscht in der Kultur-, Musik- und Unterhaltungsbranche eine Stimmung, die zwischen Resignation und endzeitähnlicher Panik oszilliert. Konzertveranstalter, Musiker und Clubbetreiber jeglicher Couleur werden noch lange nach der Krise unter ihr leiden. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Restriktionen zwingen bereits jetzt viele von ihnen in die Knie. Einige werden diese Zeit vermutlich nicht überstehen.
Umso dringlicher ist das Bedürfnis, nach Lösungen zu fahnden: Denn nicht nur die Kulturschaffenden leiden unter dem andauernden Zustand der Ungewissheit. Auch die Stimmung derjenigen, die gerne ihre Freizeit mit einem reichhaltigen Kunst- und Kulturangebot verbringen, kippt allmählich. Die Angst vor der Ansteckung mit dem Virus und der Frust über die Beschränkung der selbstbestimmten Freizeitgestaltung stehen sich augenscheinlich unvereinbar gegenüber.
Drive-in als Gesetzeslücke im Veranstaltungsverbot während der Pandemie?
Doch Veranstalter und Künstler zeigen sich kreativ im Umgang mit den Veranstaltungs-Restriktionen: Das Drive-in ist zurück – jetzt für Events aller Art. Heute kennt man das Drive-in nur noch aus nostalgischen Filmen aus Amerika, in denen Teenies der 50er, 60er und 70er sich im Autokino trafen, in großen Gruppen mit mehreren Autos oder nur zu zweit zum Schmusen – ungestört von den Eltern daheim. Das Auto als Mittel zur Teilnahme an einem kollektiven Erlebnis einerseits und Ort für Zweisamkeit und Privatsphäre andererseits: Es war der Schlüssel zu den verschiedensten Abenteuern und dieser Aspekt scheint nun ein Revival zu erleben.
Denn so vielfältig das kulturelle Leben sich zeigt, kann auch das Drive-In als Lösung adaptiert werden:
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“Am Freitag, dem 1. Mai, veranstaltete zum Beispiel der Index-Nachtclub in Schüttorf einen […] Rave, bei dem 500 Menschen teilnehmen durften – aber nur in ihren Autos.”, berichtet der Musikexpress. Auch fanden Ende April in Düsseldorf Drive-in Konzerte von Rappern wie Sido und Alligatoah statt. Dänemark plant laut der Welt sogar Drive-in Fußballspiele, die die Zuschauer über zwei vor dem Stadion aufgehängte Leinwände aus ihren Autos heraus verfolgen können. Den Kommentar dazu gibt es über das Autoradio zu hören.
Aber es kommt noch erstaunlicher: Die Frankfurter Allgemeine berichtet von einem Drive-through Strip Club in Portland / Amerika. Da solche Etablissements derzeit nicht öffnen dürfen, weil sie erstens nicht als systemrelevant gelten und zweitens das Ansteckungsrisiko zu groß ist, verlegte der Besitzer der “Lucky Devil Lounge” die Location kurzerhand in ein Zelt. Und während die Tänzerinnen mit Mundschutz und Handschuhen ihre Performances darbieten, fahren die Besucher mit ihren Autos mitten hindurch und können durch die Glasscheiben ihrer Autofenster zuschauen. Anfassen ist allerdings selbstredend nicht erlaubt.
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Beinahe denkt man an ein Kuriositätenkabinett im Zirkus der vorletzten Jahrhundertwende. Im Artikel selbst fallen die Begriffe Dystopie und Science-Fiction für diese Art von Szenario.
Darüber, ob das Wort Dystopie eine passende Beschreibung ist, lässt sich streiten. Sonderbar ist die Vorstellung aber in jedem Fall, und auch scheint sie auf seltsame Art und Weise einen zukünftiges generelles Verbot von sexueller Berührung zwischen Fremden zu antizipieren.
Wird es jemals wieder so wie früher?
Von ein bisschen skurril bis bewundernswert und verständlich sind die Maßnahmen der Veranstalter, Clubbetreiber und Musiker allemal. Denn für viele von ihnen geht es derzeit um das nackte Überleben. Und wenn alles den Zweck hat, den Menschen ein Stück mehr Normalität zurückzugeben, ihnen das Erlebnis wieder erlebbar zu machen, wenn auch nur durch ein Autofenster – wer könnte etwas dagegen sagen?
Besonders spannend ist allerdings, dass gerade das Auto zum Lösungsansatz wird, wenn es darum geht, den Menschen ein kulturelles Leben wiederzugeben – und nicht etwa der Livestream. Klar, denn der ist im Vergleich zwar etwas umweltfreundlicher als das Auto, aber auch irgendwie weniger live. Kehrt die Glorifizierung des Autos als Ort der Abenteuer wieder zurück und tritt der Klimaschutzgedanke nun in Konkurrenz zum Überlebenskampf der kulturellen Großveranstaltungen und dem eigenen Vergnügen? Der Sommer 2020 wird es zeigen.
Über den Trend der Festivalisierung gibt es bei Qiio übrigens ein ganzes Kompendium. Mehr lesen.