Im Mittelalter spielte man nicht nur zum Spaß und Zeitvertreib, sondern auch, um Kriegstechniken zu trainieren sowie Mut und Heldentum zu beweisen. Als Siegertrophäe gab es damals Ruhm, Ehre und ein Kalb.
Unter strahlender Sonne fliegen Fäuste, Anspannung liegt in der Luft, Schweiß und Blut fließen, während sich jeweils 27 Männer zwischen Gebrüll und Jubel im Sand auf der Piazza Santa Croce in Florenz treten, miteinander ringen und kämpfen. Sie tragen traditionelle Gewänder aus der Renaissance in den Farben ihrer Mannschaften, die aus den vier historischen Vierteln der toskanischen Hauptstadt kommen. Auch die Kleidung der Fahnenschwinger sowie Trommler und Trompetenspieler erinnert an vergangene Tage. Fast könnte man denken, man wäre hier im 16. Jahrhundert gelandet, doch die Smartphones, die auf der Tribüne in die Luft gehalten werden, bringen uns zurück in die heutige Zeit.
Auf dem Fußballplatz wurde das Heldentum bewiesen
Die Rede ist vom Calcio storico, der berühmte und historische Fußball aus Florenz – obwohl das brutale Spiel mit dem heutigen Verständnis von Fußball nur wenig zu tun hat. Zwar muss der Ball ins gegnerische Tor gelangen, doch der Weg dahin ist begleitet von Gewalt, Tritten, Schlägen und Kampfsporttechniken. Dass das Ganze mit einer vergangenen Work/Play Culture zu tun hat, geht auf die Ursprünge des alljährlichen Turniers zurück, die im Mittelalter liegen.
Um ihr Heldentum zu beweisen, sollen Adlige das Spiel einst ausgerichtet und selbst daran teilgenommen haben. Allerdings wird auch vermutet, dass der Calcio storico in damaligen Militärlagern entstand. Zwischen den Schlachten fanden Soldaten dort nicht nur Ruhe, sondern praktizierten auch ähnliche Turniere, um sich auf ihre Kämpfe vorzubereiten und sich zu stärken. Das Spiel diente den Soldaten damals sowohl als Übung als auch als Motivation, um den Herausforderungen im Krieg gewachsen zu sein und dem Gegner auf Höchstniveau zu begegnen.
Ritterspiele als effektive Trainingseinheit
Ein Prinzip, das auch in mittelalterlichen Ritterspielen aufgegriffen wurde, die uns heute aus zahlreichen Historienfilmen bekannt sind. Hierbei traten Gruppen, später vermehrt Einzelpersonen in Turnieren gegeneinander an. Zu den Kategorien zählten zum Beispiel der Schwertkampf und das berühmte Lanzenstechen auf Pferden. Die Teilnahme galt ebenfalls als Training für den Krieg und gute Möglichkeit, verschiedene Techniken auszuprobieren und zu verfeinern.
Die Turniere hatten allerdings einen bedeutenden Nebeneffekt: Im Laufe der Zeit zog man mit Ritterspielen immer mehr Schaulustige an, die mutigen Teilnehmer wurden gefeiert wie heutige Popstars. Der Fokus der Spiele geriet immer mehr auf das Individuum, wodurch auch der Drang zur Selbstdarstellung wuchs. Wohl einer der Gründe, warum die Turniere im späten Mittelalter meist von Eliten und dem Adel ausgeführt wurden.
Wettkampf um Ehre und Stolz
Erfolgreiche Ritter genossen durch den Wettkampf in ihrer kriegsfreien Zeit Anerkennung und Ruhm und konnten den Jubel, im Gegensatz den Schlachten in der Ferne, live miterleben und Triumph und Beifall genießen. Dadurch stieg gleichzeitig die Motivation, auch im Krieg zu glänzen, wovon wiederum das Land als, sagen wir mal, Arbeitgeber profitierte. Ritterspiele waren aber besonders eine Frage der Ehre. Und dieses Verständnis ist bis heute beim Calcio storico, der längst zum touristischen Höhepunkt und florentinischen Kulturgut avanciert ist, erhalten.
Die Mannschaften repräsentieren und spielen für ihr Viertel – und für den Stolz. Wie damals am 17. Februar 1530, als Florenz von Truppen von Karl V. belagert wurde. Für die Florentiner fand an jenem Tag ein historisch und patriotisch bedeutendes Spiel statt, weil sie vor den Augen der Gegner den Calcio storico ausrichteten und damit ihren Mut und ihre Furchtlosigkeit bewiesen. Das Turnier an diesem Tag stand ganz unter dem Zeichen der Zusammengehörigkeit und war vermutlich ein emotionaler Moment, der die Florentiner noch stärker zusammenschweißte und dazu führte, dass sie bereit waren, auch außerhalb des Spiels Opfer zu bringen und alles zu geben.
Der wohl brutalste Kampf um das Siegtor
Welchen enormen Wert der Fußball aus Florenz damals gehabt haben muss, lässt sich auch an der Aufmachung der Spieler erkennen. In früheren Jahrhunderten fand er sonntags nach der Kirche statt, sodass die teilnehmenden Männer gleich in ihren besten Anzügen auf den Platz gingen. Deswegen musste sogar das Regelwerk angepasst werden, um festzulegen, dass eben Tore entscheidend sind und nicht die bestgekleidete Mannschaft. Auch der Gewinn lässt darauf schließen, welche besondere Bedeutung dem Calcio storico zugeschrieben wird. Sowohl heute als auch damals wurde dem Siegerteam als Belohnung kein Preisgeld, sondern ein Chianina-Kalb überreicht. Damit gelten seit jeher das Spiel selbst und die Werte, die damit verbunden sind, als größte Motivation, daran teilzunehmen.
Der Calcio storico geriet in Vergessenheit, bevor er 1930 wieder zum Leben erweckt wurde. Angeblich soll die Brutalität des 50-minütigen Spiels seitdem noch zugenommen haben. 2014 musste das Finale sogar abgesagt werden, weil das Halbfinale derart eskaliert war. Es ist nur verboten, den Gegner in den Kopf zu treten und von hinten oder zu zweit anzugreifen. Ansonsten ist alles rund um Schläge und Tritte erlaubt. Und wer das Spiel bereits gesehen hat, weiß, dass die „Gladiatoren” den Eins-zu-eins-Kampf auf dem Spielfeld wahrhaft suchen. Blut und Gewalt gehören hier quasi mit dazu. Eine Pause davon gibt es nicht – das Gemetzel wird nur kurz unterbrochen, wenn ein Verletzter vom Platz getragen werden muss.
Nach dem Turnier scheint das alles vergessen zu sein. Nicht nur heute, auch im Mittelalter wurden die Gewinner anschließend wie Helden zelebriert. Derartige Emotionen und der Geist des Wettkampfs sollen das Spiel auch in den nächsten Jahrhunderten prägen. Doch besonders am Arbeitsplatz rücken mit dem klassischen, gewaltfreien Fußball später ganz andere Werte in den Vordergrund.