Das Konzept hinter dem Zelt als Unterkunft für den Menschen ist so naheliegend, dass sich der Ursprung kaum auf einen Heureka-Moment datieren lässt. Schutzbehausungen haben sich die Menschen seit jeher dann gebaut, wenn am Lagerort kein natürlicher Unterschlupf zur Verfügung stand. Archäolog:innen haben Zelte aus Mammutknochen und Tierhäuten gefunden, die auf 40.000 vor Christus datiert wurden. Materialtechnisch haben sie mit den heutigen Hightech-Konstruktionen wenig gemeinsam, formal hat sich hingegen wenig verändert.
Eine Außenhaut aus Nylon mit Ripstop, ultraleichte Fiberglas-Teleskopstangen und ein kompaktes Packmaß: So oder so ähnlich liest sich die Beschreibung eines Trekkingzeltes im Jahr 2022 – und zumindest für Backpacker und Bergsteiger ist dieser Jargon rund um Wassersäule und Windlast eine vertraute Sprache. Wer in der heutigen Zeit ein Zelt besitzt, wohnt meist mit Heizung und Elektrizität hinter Mauern und sucht am Wochenende oder in den Sommerferien das gefahrensichere Abenteuer in der Natur. Das Zelt bringt uns bei einer romantischen Zivilisationsflucht wieder zu den Elementen der Natur. Für die Menschen in früheren Epochen aber gehörten die Wetterbedingungen noch selbstverständlich zu den täglichen Herausforderungen. In der Steinzeit beispielsweise suchten die Menschen in kegelförmigen Konstruktionen wie dem Mammutzelt Schutz, später aber auch in Tunneln und unter Tarps. Als Materialien standen Leder, Fell, Blätter und Rinde zur Verfügung, die Stützen und Spannelemente waren aus Knochen, Seil oder Holz.
Das Zelt als architektonischer Normcore
Die ersten Belege für sesshafte Gemeinschaften sind etwa 12.000 Jahre alt. Bis zu diesem Zeitpunkt – und damit zu 95 Prozent des menschlichen Lebens auf der Erde – waren mobile Gruppen von Jägern und Sammlern die Norm. Heute ist das traditionelle Nomadentum davon bedroht, vollends zu verschwinden. Zählungen gehen davon aus, dass derzeit weltweit gerade einmal 50 bis 250 Millionen Menschen nicht sesshaft sind. Zusammen mit der Lebensweise könne auch das Wissen über ihre nachhaltigen Wohnstrukturen verloren gehen. Denn Zelte waren von jeher die bevorzugte Unterkunft der Nomaden, – ob in Nordamerika, der Mongolei oder den Wüsten Afrikas. Ihre Grundkonstruktion wurde je nach Region und Ressourcen auf die Umweltbedingungen und individuelle Lebensweise angepasst. Entsprechend haben sich je nach Koordinaten Baulösungen durchgesetzt, die stabil im Wind stehen, sich leicht auf- und abbauen lassen und durch ein geringes Gewicht oder kompaktes Packmaß einfach von Ort zu Ort zu transportieren waren.
Form follows condition
Dabei entstanden regelrechte Typologien für die verschiedenen Klimazonen. Die nordamerikanischen Tipis und die samischen Lavvus sind hohe Kegel, optimiert für kalte Winter und heiße Sommer. Mit Rauchklappen ausgestattet, gehören sie zu den wenigen Zelten, die ein offenes Feuer ermöglichen, während bei extremer Kälte von außen noch zusätzliche Felle aufgelegt werden. Bei Hitze hingegen kühlt die zirkulierende Luft den Innenraum ab. Das Gestell besteht aus 10-30 schlanken und geraden Holzstämmen, die am oberen Ende aneinander angelehnt und fixiert werden. Auch die Zelte der Beduinen sind auf optimale Luftzirkulation ausgelegt. Weil in Wüsten hingegen nicht mit Niederschlägen zu rechnen ist, kann sich auch kein Regenwasser in Planen sammeln. Mit hängenden Bahnen ducken die Wohnbehausungen sich hier hinter Dünen und in Steppen, bieten dem Wind wenig Angriffsfläche und maximieren ihre Schattenfläche.
Wer wandert, sichert Ressourcen
Ziehen die Nomaden weiter, werden die Zelte zerlegt. Materiellen Ballast können Nomaden sich nicht leisten. Sie führen ein Leben in Balance mit ihrer Umwelt, wenn sie den Ressourcen wie Herden und Weiden oder dem Wetter hinterher reisen. Wo immer die Vegetation die beste Nahrungsgrundlage bietet, lassen sie sich temporär nieder. Gerade verlassene Gebiete können sich derzeit regenerieren. Mit dieser Wirtschaftsweise wird die nächste Saison ebenso berücksichtigt wie die nächste Generation. Würden sie das Land nicht regenerativ, sondern ausbeuterisch bewirtschaften, entzögen sie ihrer Kultur und ihren Kindern die Existenzgrundlage. Dadurch hat sich ein symbiotisches Verhältnis zur Natur, ihrem zyklischen Rhythmus und den Ressourcen entwickelt. Nomaden fügen sich ins Habitat ein, anstatt es zu domestizieren. Aus der schieren Notwendigkeit heraus leben sie nachhaltig und minimalistisch – und das schon lange bevor die globalisierte und urbanisierte Welt diese Vokabeln in ihren Wortschatz aufgenommen hat.
Zero Impact mit Fellen und Ästen
Der ökologische Fußabdruck eines traditionellen Nomadenzeltes aus Knochen, Fellen und Ästen ist gleich null. Bei seiner Herstellung wird kein Müll produziert, die eingesetzten Materialien sind Reste der Nahrungsbeschaffung. Am Ende seiner Lebenszeit, in der das Zelt durch Reparaturen lange in Schuss gehalten wird, kann es als rein natürliches Produkt der Natur überlassen werden. Seit einigen Jahren wird wieder über die Wirtschaftsweise nomadischer Menschen gesprochen – auch und vor allem in Hinblick auf ihr umfassendes und rationales Verständnis von einem Leben mit Zero Impact. Es gibt viel von ihnen zu lernen: Wie wir in Zukunft mit den extremen Wetterbedingungen umgehen können, die durch den Klimawandel ausgelöst werden. Wie man mit Ressourcen wirtschaftet, ohne sie aufzubrauchen. Wie die Biodiversität erhalten werden kann. Das Zelt als traditioneller Archetyp wird dabei zu einem exemplarischen Beispiel dafür, dass wir in Bezug auf unseren Besitz ganz neue Parameter – wie Nutzwert, Umweltauswirkung und Ressourcenverbrauch – ansetzen müssen.