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Kompendium: Kontrollierter Rausch

Ab den späten 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts finden wir den Rausch an anderen Stellen: Die Performance-Kunst und yogische Übungen streben andere Bewusstseinszustände an als die Wissensarbeit. Was haben Marina Abramović und Kundalini-Yoga gemein?

Kompendium: Kontrollierter Rausch

Rauschzustände außerhalb der drogeninduzierten Ekstase versprechen Heilung und erzählen von unserer Sehnsucht nach Erfahrungen jenseits des Alltags. Wir waren in einer Sweatlodge und haben geschwitzt wie vor 10.000 Jahren.

Kompendium: Kontrollierter Rausch

Ein Trend entwickelt sich weiter und sorgt für neue Produkte auf dem Markt. Welche Technologien, die es heute schon in Ansätzen gibt, werden in 10 Jahren noch weiterentwickelt? Wie das Spa der Zukunft aussieht, haben wir uns im Folgenden ausgemalt.

Kompendium: Kontrollierter Rausch

Wie sieht der Club der Zukunft aus? Chemische Drogen braucht hier niemand mehr, aber der Rausch ist noch immer ein integraler Teil der Erfahrung. Wir tanzen im Jahr 2050.

Kompendium

Der Rausch gehört zum Menschen: In allen Zeitaltern und Kulturen hat sich unsere Spezies freiwillig benebelt. Aber in den letzten Jahren wird die Sehnsucht nach einem kontrollierten, gesunden Rausch immer stärker. Wie werden durch Performance-Kunst und Yoga die Sinne stimuliert? Und wie sieht der Club der fernen Zukunft aus?

Kompendium: Kontrollierter Rausch

Viele Legenden ranken sich um das Orakel von Delphi. Über Jahrhunderte hinweg beeinflusste der Tempel durch seine Weissagungen die Ausgestaltung der Politik. Die Priesterinnen, die hier in die Zukunft blickten, verkündeten ihre Orakelsprüche im Rausch.

Kompendium: Kontrollierter Rausch

Priesterinnen im Rausch blicken in die Zukunft

Kompendium: Kontrollierter Rausch

Priesterinnen im Rausch blicken in die Zukunft

Die Weissagungen der Priester*innen von Delphi beeinflussten über Jahrhunderte die politischen Entscheidungen der antiken griechischen Herrscher. Foto: "Das Orakel" von Camillo Miola, Digital image courtesy of the Getty's Open Content Program via Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Viele Legenden ranken sich um das Orakel von Delphi. Über Jahrhunderte hinweg beeinflusste der Tempel durch seine Weissagungen die Ausgestaltung der Politik. Die Priesterinnen, die hier in die Zukunft blickten, verkündeten ihre Orakelsprüche im Rausch.

 

Das Heiligtum des Apollon und seine mythischen Dämpfe

Im Innersten des Tempels stand eine riesige Statue des Gottes Apollon, vermutlich aus Gold. Ein reich geschmückter Altar beherbergte ein ewiges Feuer, das nur mit Tannenholz genährt wurde. Darüber hingen Lorbeerkränze, die als Dekoration und Räucherwerk zugleich dienten. Nur wenige hatten Zutritt zum Allerheiligsten des Tempels. Die Propheten (Priester) und die Hohepriesterin begaben sich hierher, wenn sie den Göttern lauschen wollten. Die Pythia, wie die Hohepriesterin auch genannt wurde, hatte ihren Namen von der mythischen Schlange Python. Apollon selbst erschlug dieselbe aus Rache: Die Schlange hatte seine Mutter fressen sollen, als diese mit ihm und seiner Schwester Artemis schwanger war. Das Blut des mythischen Geschöpfes verlieh dem Ort Delphi hellseherische Kräfte.

Die Pythia, die Priesterin und Weissagerin hat ihren Namen von der Python-Schlange, die von Apollon, dem Schirmherrn des Tempels, erschlagen worden war und deren Blut dem Ort Delphi seine mystischen Kräfte verliehen haben soll. Foto: Apoll erschlägt die Python-Schlange von Peter Paul Rubens, via Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Eine der wichtigsten Quellen für die Geschehnisse in Delphi ist der antike Schriftsteller Plutarch (45–125), der selbst 30 Jahre lang Priester dort war. Aus seinen Schriften können wir den Prozess des Orakels rekonstruieren. So ist es möglicherweise abgelaufen: Für den Orakelspruch begab die Pythia sich in einen besonderen Bewusstseinszustand. Sie fastete drei Tage lang, trug nur einfache Kleidung und reinigte sich in einer heiligen Quelle. Jahrhundertelang vollzog sie dieses Ritual nur einmal im Jahr – am Geburtstag des Apollon, der über diesen Tempel wachte. Später, als die Nachfrage größer wurde, dann einmal im Monat. Bis zu drei Hohepriesterinnen waren gleichzeitig aktiv, um sich abwechselnd in einen Rauschzustand zu begeben. Dafür beugten sie sich über eine Erdspalte, über der ein Dreifuß stand. Aus der Erdspalte stiegen Dämpfe empor, welche die Pythia in ein Delirium versetzten. Dieses stellte Kontakt mit dem Gott Apollon her, dem sie dienten. Selbiger gestattete Einblicke in die Zukunft, welche die Pythia im Rausch stammelnd aussprach. Die sie begleitenden Priester notierten sich ihre Ausschweifungen und übersetzen sie. Die Orakelsprüche waren stets Auslegungssache: Ihre Deutung oblag jenen, die nach ihnen verlangten. Waren es wichtige Machthaber, konnte die Interpretation den Kurs der Geschichte bestimmen. Im Fall von Alexander dem Großen kam es erst gar nicht zu einem Spruch, denn der Legende nach suchte er die Pythia außerhalb der vorgegebenen Orakelzeiten auf. Sie versuchte ihn zu vertrösten, doch der Feldherr packte sie bei den Haaren und zerrte sie in den Tempel. Die Orakelpriesterin verlautete daraufhin: „Lass ab von mir, du bist doch unüberwindlich, Junge!“ Das genügte dem Heerführer: Er zog von dannen – und in die Schlacht.

 

Der Priesterinnenrausch war lange ein Mysterium für sich

Als die Ruinen des Tempels von Delphi gefunden wurden, gab es neben den literarischen Beschreibungen keinerlei Hinweise auf die Rauschzustände der Priesterinnen sowie deren Ursprung. War alles nur eine Legende? War der Rausch nicht mehr als eine faszinierende Geschichte? Erst im frühen 21. Jahrhundert fand die Wissenschaft eine plausible Erklärung für die Trancezustände der Priesterinnen: Das Geheimnis liegt in der geologischen Beschaffenheit des Geländes. In Zeiten seismischer Aktivität können Methan, Äthylen und andere Gase durch Kalksteinschichten aufsteigen. Ihr Geruch deckt sich genau mit der Beschreibung, die uns Plutarch hinterlassen hat.

Auch ein weiterer Nebeneffekt der Gase stimmt mit den Quellen der Antike überein: Sie können, wenn zu viel davon eingeatmet wird, zum Tod führen. In einer Studie aus dem Jahr 2002 heißt es, dass es durchaus eine natürliche Erklärung für die Rauschzustände der Priesterinnen und auch entsprechende Beweise dafür gibt. Wenn das Adyton – das Heiligtum – des Tempels ein kleiner, geschlossener Raum war und sich in diesem geringe Mengen von Gas über einen längeren Zeitraum ansammelten, würde das die beschriebenen Effekte erklären.

 

Tödlicher Rausch im Dienste der Götter

Die Priester*innen begaben sich für ihre Orakelsprüche in einen beabsichtigt herbeigeführten Rauschzustand. Was sie verkündeten, musste von demjenigen, dem die Prophezeiung galt, interpretiert werden. Foto: “Oracle of Delphi: King Aigeus in front of the Pythia”, Zde via Wikimedia Commons, (CC BY-SA 4.0).

Die Priesterinnen begaben sich mit einem bestimmten Mindset und viel Vorbereitung in diesen kontrollierten Zustand der Euphorie. Sie nutzten den Rausch als Vehikel für eine höhere Bewusstseinsebene. Ihre Ekstase war kein Hedonismus, sondern eine zielgerichtete und geregelte Suche nach Wahrheit. Diese Wahrheit suchten sie nicht für sich selbst, sondern für ihre Bittsteller aus der Gemeinschaft.

Die Rauschkammer der Priesterinnen war bestens geschützt: Niemand, der nicht Teil des Rituals war, konnte Zugang zu ihr erlangen. Zudem spielten die Priesterinnen eine besondere Rolle innerhalb der Gemeinschaft: Nur sie durften sich dem Rausch widmen – und das Risiko eines durch die Gase ausgelösten Todes verlieh ihrem Unterfangen noch mehr Nachdruck. Dieser heilige Rausch verfolgte klare Ziele, auch wenn die Orakelsprüche selbst nicht immer einfach zu entschlüsseln waren.

Weiterlesen Die Grenzen von Körper und Geist werden im Rausch erforscht
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Die Grenzen von Körper und Geist werden im Rausch erforscht

Kompendium: Kontrollierter Rausch

Die Grenzen von Körper und Geist werden im Rausch erforscht

Marina Abramović, ‘Artist Portrait with a Candle (C)’, from the series Places of Power, 2013. Fine art pigment print. Brazil. Courtesy of the Marina Abramović Archives © Marina Abramović

Ab den späten 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts finden wir den Rausch an anderen Stellen: Die Performance-Kunst und yogische Übungen streben andere Bewusstseinszustände an als die Wissensarbeit. Was haben Marina Abramović und Kundalini-Yoga gemein?

Von Anfang an extrem: die erste Performance-Serie von Marina Abramović

Heute gilt Marina Abramović als eine der Ikonen der Performance-Kunst: Ihre Arbeiten sind weit außerhalb der Grenzen der Kunstwelt bekannt. Mit der Serie „Rhythm“ beginnt sie im Jahr 1973 ihre Arbeit mit den Grenzen von Körper und Bewusstsein. Die Instruktionen zu ihrer Performance lesen sich wie folgt:

„I turn on the tape recorder.

I take the first knife and stab in between the fingers of my left hand as fast as possible.

Every time I cut myself, I change the knife.

When I’ve used all of the knives (all of the rhythms), I rewind the tape recorder.

I listen to the tape recording of the first part of the performance.

I concentrate …“

Marina Abramović, ‘Artist Portrait with a Candle (A)’, from the series With Eyes Closed I See Happiness, 2012. Colour, fine art pigment print. Courtesy of the Marina Abramović Archives © Marina Abramović.

Zweifelsohne muss sie sich in einen besonderen Bewusstseinszustand begeben, wenn sie freiwillig Schmerz in Kauf nimmt. Und ohne Frage ist der Ausgang der Performance ungewiss – was jedoch feststeht, sind die Regeln. Diese bestimmen die Entfaltung der Performance. Zwar ist Abramović kein Orakel, das eine Nachricht übermittelt, doch sie folgt einer Fragestellung: „Wie weit kann ich meinen Geist zur Konzentration bringen, wenn ich zugleich die Unversehrtheit meines Körpers aufs Spiel setze?“ Diese Frage sollte auch andere Arbeiten in der „Rhythm“-Serie bestimmen. In „Rhythm 4“ beispielsweise setzt Abramović sich einem Industrieventilator aus. Sie atmet die Luft ein, die mit großer Kraft aus dem Gerät in ihre Lunge geblasen wird. Dabei ist der Druck so stark, dass sie bald ohnmächtig wird. Ohne Vorbereitung hätte Abramović sich diesen Herausforderungen nicht stellen können: Sie wird zur Forscherin des Bewusstseins. In jedem neuen Teil ihrer Serie „Rhythm“ ändert sie die Prozesse, entwickelt sie weiter. Dabei geht es ihr nicht – wie Kritiker ihr zuweilen vorwerfen – um Aufmerksamkeit. Es geht ihr um die Grenzverschiebung im Rausch, um die Erforschung des Menschenmöglichen im Rahmen der Kunst.

Während zur selben Zeit LSD, MDMA und Marihuana zu Symbolen des benebelten Wachzustands und zu Token einer neuen Lebenseinstellung werden, braucht Abramović keine Drogen, um ihr Bewusstsein zu erweitern. Sie sucht den Rausch in der direkten Konfrontation mit realen Objekten. Mit immer neuen Mitteln fordert sie sich selbst heraus. Als Künstlerin verpflichtet sie sich der Dokumentation, bezieht ihr Publikum mit ein und stellt sich aus. Wir werden so alle zu Propheten, die das Orakel der Abramović ausdeuten sollen. Sie macht sich in ihrem Rausch zum Testobjekt für ein Experiment. Die Hoffnung: daraus Erkenntnis zu gewinnen, die uns alle betreffen kann. Zugleich ist ihr Zustand durch die strengen Regeln ihrer Performances reguliert und ritualisiert. Ohne die intensive Vorbereitung (die zu allen ritualisierten Rauschzuständen gehört) wäre diese intensive Auseinandersetzung mit den Grenzen des Körpers nicht möglich.

 

Kundalini-Yoga: Wenn die Schlange aufsteigt, wirst du erleuchtet sein

Rituale einer anderen Art verfolgt das Kundalini-Yoga. In den späten 60er-Jahren brachte Yogi Bhajan eine systematisierte Form von yogischen Atem- und Meditationstechniken nach Amerika, die er unter dem Namen „Kundalini-Yoga“ vermarktete. Während die Techniken selbst aus dem allgemein verfügbaren Kanon yogischer Übungen stammen, sind es die Zusammenstellung und die Systematisierung, die eine Form von Yoga schaffen, die für das westliche Publikum verdaulich ist. Hinzu kommt die Guru-Figur, die für das vermittelte Wissen bürgt.

Gemäß der Lehre des Kundalini-Yoga ruht eine Schlange im Wurzelchakra (nahe des Damms bzw. des Perineums). Wird diese Schlange durch eine Abfolge von Übungen und der Verfolgung einer entsprechenden Lebensweise erweckt, erfahren wir ein sogenanntes Kundalini-Erwachen – dabei handelt es sich um einen Rausch, der stärker als jede Droge sein soll, quasi um einen energetischen Orgasmus, der das Bewusstsein schlagartig erweitert. Während die Schlange bloß eine Verbildlichung darstellt, ist die Erweckung von Kundalini-Energie durchaus ein ernst gemeintes Thema. Im Allgemeinen gilt dieser Zustand als ein Ziel der yogischen Praxis. So kann der Begriff „samadhi“, der häufig mit „Erleuchtung“ übersetzt wird, auch als „Glückseligkeit“ verstanden werden. Die Einheit mit dem höchsten Göttlichen wird selbst zum Rausch.

Doch im Kontrast zur drogeninduzierten Benebelung ist dieser letzte, finale Rausch einer, der nur durch eine strenge Praxis und viel Geduld erreicht werden kann. Askese und Mäßigung gehören genauso dazu wie der Glaube daran, dass diese Übungen auf Dauer eine Wirkung haben. Da scheint der Drogenrausch die schnellere Lösung zu sein – auch wenn die körperlichen Konsequenzen schwerer wiegen.

Rausch durch körperliche Anspannung und strenge Regeln der Askese: Kundalini Yoga eroberte in den 1960er Jahren den westlichen Teil der Welt. Foto: Sankalpa Joshi.

 

Der Körper als Vehikel des Rausches, Rausch als Vehikel des Bewusstseins

Was haben die Experimente von Marina Abramović und die Lehren des Yogi Bhajan gemeinsam? Sie konzentrieren sich beide auf eine reglementierte körperliche Praxis, die in Rituale überführt wird. Sie glauben daran, dass ihre Arbeit letztlich zu einem Erkenntnisprozess führt. Dieser ist in der Kunstwelt kulturell eingebettet, während auf yogischer Seite die indische Tradition für die Wirksamkeit der Praxis steht. Beiden ebenfalls gemein ist der Körper als Vehikel für den Rausch, der keiner Drogen bedarf, um sich zu benebeln: Die Kontrolle über den Körper (und den Geist) wird selbst zum Rauschmittel. Es ist also weniger der Verlust als die Aneignung von Kontrolle, die beide Herangehensweisen anstreben. Dieses Verlangen bewegt die Menschen über ihre ganze Geschichte hinweg und bringt immer wieder neue Methoden hervor. Es ist die Suche nach einer transzendenten Wahrheit, einem Wissen, das entweder von Göttern oder durch direkte Erfahrung geliefert werden soll. Die Ekstase wird zum erkenntnistheoretischen Prozess, ihre Kontrolle die Gebrauchsanweisung für den Erfolg. Womit die Grundlage für einen Trend der Gegenwart gelegt wäre: die Suche nach dem gesunden Rausch.

Header: Screenshot aus dem Video des Marina Abramovic Institute, “Rhythm 0”.

Vom 26. September bis zum 8. Dezember 2020 wird Marina Abramovic mit der Ausstellung “Afterlife” an der Royal Academy of Arts in London gastieren. Mehr Informationen gibt es hier.

Weiterlesen Rauschzustand durch Schwitzen: Warum sind Sweatlodges so heiß im Trend?
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Rauschzustand durch Schwitzen: Warum sind Sweatlodges so heiß im Trend?

Kompendium: Kontrollierter Rausch

Rauschzustand durch Schwitzen: Warum sind Sweatlodges so heiß im Trend?

Die Schwitzhütte ist eine besondere und reinigende Erfahrung: Es gibt ein Davor und ein Danach. Foto: Evelyn Chong.

Rauschzustände außerhalb der drogeninduzierten Ekstase versprechen Heilung und erzählen von unserer Sehnsucht nach Erfahrungen jenseits des Alltags. Wir waren in einer Sweatlodge und haben geschwitzt wie vor 10.000 Jahren.

 

Ein spirituelles Abenteuer in Brandenburg

Mit der Bahn fahre ich am verlängerten Wochenende um den 3. Oktober von Berlin-Gesundbrunnen nach Brandenburg. Dort erwartet mich an einem kleinen Dorfbahnhof meine Körpertherapeutin, mit der ich mich auf ein Experiment eingelassen habe: Sie hat mich in eine Schwitzhütte eingeladen. Wir nennen sie „Sweatlodge“, weil wir Englisch miteinander sprechen. Wir kennen uns schon lange, ich vertraue ihr. Die somatische Arbeit mit ihr hat mich in vielen Lebensthemen weitergebracht: Warum also sollte ein Retreat mit ihr weniger versprechen? Es fällt meiner Körpertherapeutin schwer, mir die Schwitzhütte als solche zu erklären: Es sei eine Erfahrung, die Körper und Geist reinige; es gäbe ein Davor und ein Danach. „Es ist wunderschön mit anzusehen, wie erleichtert die Leute die Schwitzhütte verlassen“, berichtet sie. Ich glaube ihr – und wünsche mir das auch, diese Erleichterung. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Bewusst recherchiere ich vorher nur kurz und als ein Artikel aufploppt, der die Sweatlodge als das neue Ayahuasca bezeichnet, überfliege ich diesen lediglich. Alles was ich weiß: Es wird heiß und intensiv. Und: Die Schwitzhütte liegt voll im Trend.

 

Die Schwitzhütte reicht weit zurück in die Menschheitsgeschichte

Funde von Schwitzhütten gibt es auf fast allen Kontinenten und in allen Kulturen über alle Zeitalter hinweg. Foto: Sweatlodge, Chorazy Jane, U.S. Fish and Wildlife Service via Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Funde von Schwitzhütten gibt es auf fast allen Kontinenten und in allen Kulturen über alle Zeitalter hinweg. Sie sind einfache Saunas, bei denen ein geschlossener Raum gebaut wird, dessen Innenbereich mithilfe von erhitzten Steinen auf eine hohe Temperatur gebracht wird. Wasserdampf erhöht die Luftfeuchtigkeit und fördert das Schwitzen. Im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Sauna erhitzt sich die Schwitzhütte deutlich mehr: Die glühenden Steine geben eine extreme Hitze in den Raum ab, der Wasserdampf macht die Luft und das Atmen schwer. Auch bei einer Schwitzhütte bleibt man im selben Raum, aber im Gegensatz zur Sauna wird die Tür immer wieder geöffnet. Mehrere Runden sind möglich. Oft wird die Anzahl der glühenden Steine im Laufe des Schwitzrituals erhöht, sodass sich die Temperatur immer weiter steigert. Nach dem Besuch der Hütte kühlt man sich ab, trinkt Wasser, erfrischt sich unter einer Dusche.

Dabei bedienen sich die Schwitzhütten der Gegenwart – vor allem jene in Deutschland – einer Tradition der Lakota-Indianer: Sie übernehmen ein Ritual, das von Archie Fire Lame Deer nach Europa gebracht wurde. Der 1935 in South Dakota geborene Medizinmann zählte zum Stamm der Lakota. Er verbreitete das Wissen über die Sweatlodge spätestens in den 80er-Jahren in Europa und begründete hier eine ganze Bewegung von Schwitzhüttenbegeisterten. Einige von ihnen wollten in seine Fußstapfen treten und betreiben heute eine deutschlandweite Schwitzhüttenkultur, die kaum Werbung bedarf und gerade im ländlichen Raum durch Mundpropaganda starken Zulauf findet. Die Schwitzhütte vereint Menschen aus verschiedenen Ecken Deutschlands, wenn nicht sogar Europas. Ihre Anhänger setzen sich bewusst mehrere Tage nacheinander einem körperlich zehrenden und anstrengenden Ritual aus. Warum? Weil der Rausch nach der Hütte sie klarer denken lässt – und weil sie sich Heilung von Krankheiten versprechen. Migräne, Trauma, Rückenschmerzen: Es gibt kaum etwas, was die Schwitzhütte nicht kurieren können soll.

Die Schwitzhütten heutzutage hier in Deutschland folgen der Tradition der Lakota-Indianer, die von Archie Fire Lame Deer nach Europa gebracht wurde. Foto: von Rob Bogaerts / Anefo via Wikimedia Commons, (CC BY-SA 3.0).

 

In der Hütte an die Grenzen gehen

Eng aneinander gepfercht, mit einem Handtuch unter dem Po und nur in Badehose sitzen wir in der Hütte. Es riecht nach Schweiß, die Luft lässt sich nur schwer einatmen. Langes Ausatmen hilft dabei, die Hitze zu regulieren. Nach und nach werden Steine mit einer Mistgabel aus einem großen Feuer geholt und einen vorgeschriebenen Weg entlang in die Hütte getragen. Zwischendurch nuschelt der hessische Schamane Formeln in der Sprache der Lakota. Mir wird schlecht: Nicht nur, weil ich nicht weiß, wie sich diese Luft auf mein Asthma auswirkt, sondern auch, weil mir der Kontakt mit der Ausgangskultur des Rituals fehlt. Ist es der Geruch von kultureller Aneignung, der mir in die Nase steigt? Der Ritus wurde von einem Medizinmann selbst nach Europa gebracht und nicht gewaltsam einer Kultur entnommen. Dennoch fühle ich mich nicht wohl dabei, in einer Sprache zu sprechen, die ich nicht kenne, und diese zu zitieren. Ich schweige während der Gebete lieber. 

Irgendwann sind genug Steine in der Mitte der Hütte. Der Schamane schließt die Tür, beginnt einen Sermon in schlechtem Englisch. Er spricht davon, warum wir in die Hütte kommen. Wonach wir suchen. Was wir erwarten. Was wir loslassen. Er gibt einen Crashkurs für Menschen, die den Zugang zu Spiritualität, aber auch zu ihrem Körper, in anderen Lebensbereichen nicht mehr zu finden scheinen. Er lässt jeden von uns einen Segen aussprechen, für etwas bitten. Alle von ihnen suchen nach Heilung, nach Gemeinschaft und nach Rausch. Sie wollen ausschwitzen, was sie daran hindert, im Leben authentisch zu sein. Bei aller impulsiver Ablehnung: Das haben wir gemein. Deswegen bin auch ich hier.

 

Kollektiver Rausch: Eine Nacht im Club ist genauso verschwitzt

Ohne eine Kontaktperson, der ich vertraue, wäre ich niemals in eine Schwitzhütte gegangen. Das intensive Schwitzen, der Rausch, der danach an der warmen Oktoberluft einsetzt: Beides war von einer Qualität, die ich so noch nie erlebt hatte. Ganz ohne technische Vorrichtungen und vollkommen ohne Substanzen haben wir uns in einen extremen körperlichen Zustand versetzt. Das macht was mit mir – es gibt ein Vorher und ein Nachher. Die Beziehung zu meinem Körper hat sich geändert. Ich traue mir mehr zu, gleichzeitig bin ich mir aber auch der Fragilität meines Körpers bewusster. Ein bisschen Todesangst gehört wohl dazu, wenn man so stark schwitzt.

Schwitzen oder Clubben? Verändert sich die Qualität des Rausches durch das Weglassen bewusstseinserweiternder Substanzen? Reicht der Körper als Vehikel für den Rausch? Foto: Thiago Matos.

Nimmt man die Drogen weg und ersetzt sie durch eine extreme körperliche Erfahrung wie das Schwitzen in einer selbst gebauten Hütte, dann geht die Gleichung noch immer auf. Zwar bin ich keine Hohepriesterin, doch die Schwitzhütte hat mich verändert: Ich verstehe, warum die anderen, die mit mir in dieser Hütte saßen, immer wieder dorthin zurückkehren. Sie kommen nicht nur für sich, sondern auch für das Miteinander. Sie wünschen sich eine Gemeinschaft, etwas, das sie in ihrem eigenen Umfeld nicht finden. Bedienen wir uns hier einer fremden Kultur, an der wir uns dank unserer Privilegierung bereichern können? Oder lassen wir eine Tradition weiterleben? Mit den Menschen aus der Schwitzhütten-Community kann ich diese Fragen nicht diskutieren, sie sind zu sehr in ihre Gemeinschaft verliebt. Als Außenstehender traue ich mich nicht, diese Fragen zu stellen, nehme sie aber mit nach Hause. Ganz ausschwitzen konnte ich sie somit nicht. 

Die Schwitzhütte mit dem hessischen Schamanen gibt es schon seit den 90er-Jahren. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Ritual und nach Rausch ohne bleibende Schäden ist real. Wir brauchen diese Räume außerhalb des Alltags, um mit uns selbst in Berührung zu kommen. Dafür musste ich nach Brandenburg auf einen schönen Hof fahren. Dafür musste ich mit fremden Menschen in einer selbst gebauten Hütte schwitzen.

Weiterlesen Rausch ohne Risiko oder Drogen? So könnte die Zukunft aussehen.
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Rausch ohne Risiko oder Drogen? So könnte die Zukunft aussehen.

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Rausch ohne Risiko oder Drogen? So könnte die Zukunft aussehen.

Über die Nase nehmen wir nicht nur Informationen auf – alles, was wir riechen, beeinflusst direkt, wie wir uns fühlen. Das geht bis hin zum Rauschzustand. Foto: Motoki Tonn.

Ein Trend entwickelt sich weiter und sorgt für neue Produkte auf dem Markt. Welche Technologien, die es heute schon in Ansätzen gibt, werden in 10 Jahren noch weiterentwickelt? Wie das Spa der Zukunft aussieht, haben wir uns im Folgenden ausgemalt.

 

Ätherische Öle mit erwünschten Nebenwirkungen

Unser Geruchssinn hat einen intensiven Effekt auf unsere Gefühle, keine Frage. Über die Nase nehmen wir nicht nur Informationen auf – alles, was wir riechen, beeinflusst direkt, wie wir uns fühlen. Das geht bis hin zum Rauschzustand. Die Forschung hat über 8.000 Terpene entdeckt, die unterschiedlichen Wirkungen auf den Körper entfalten. Diese natürlichen Stoffe kommen in Pflanzen, Mikroorganismen und Tieren vor. Sie agieren als Hormone bis hin zu Botenstoffen. Je mehr wir über sie wissen, desto gezielter können sie eingesetzt werden. Lavendel, so viel ist bekannt, beruhigt die Nerven. Warum das so ist, wissen wir erst, seit die Terpene genauer erforscht werden. Auch das Waldbaden hängt mit ihnen zusammen: Was so ansprechend nach Wald riecht, tut wegen dieser durch die Luft übertragenen Inhaltsstoffe auch dem Körper gut. So könnte das Waldbaden der Zukunft aussehen:

 

Rausch in der virtuellen Realität

Waldbaden: Was so ansprechend nach Wald riecht, tut wegen dieser durch die Luft übertragenen Inhaltsstoffe auch dem Körper gut. Wie könnte das Waldbaden von morgen aussehen? Foto: veeterzy.

Du befindest dich in einem Raum, die Luft ist feucht und riecht waldig. Dir wird eine VR-Brille aufgesetzt, erst ist der Bildschirm schwarz, dann erscheint ein Menü. „Wählen Sie ein gewünschtes Szenario aus“, sagt eine Stimme und dir werden drei Bilder gezeigt. Ein Wald ist zu sehen, darunter steht „Waldbaden Klassik“. Daneben ein Bild von Sternen, es könnte eine Galaxie sein, mit der Beschreibung „Spacetrip“. Die dritte Option zeigt eine Unterwasserszenerie mit dem Titel „Unterwasser“. Wie entscheidest du dich? 

Der Inhalt des Bildschirms ändert sich, du tauchst ab und siehst vor dir Algen, Korallen, ein Riff. Als du die Hände bewegst, merkst du, dass du einen Taucheranzug trägst: Je länger du in der Illusion verweilst, desto mehr gewöhnst du dich daran. Doch dann ist da ein Geruch, der nicht so ganz zur Szenerie passen will. Es duftet nach Nadeln, nach Tannen und nach Gehölz. Du merkst, wie dein Puls sich entspannt, dein Atem tiefer wird. Fische schwimmen an dir vorbei – der virtuelle Tauchgang und der reale Geruch, der dich umgibt, ergeben gemeinsam eine beruhigende Sinneserfahrung. Mehr noch: Sie versetzen dich in eine Art Rauschzustand. Der Geruch ändert sich. Der Tannenduft verwandelt sich in etwas, das du nur schwer erfassen kannst: Ist es Zimt? Oder doch eher Orange? Du weißt es nicht, aber es riecht unglaublich gut – so etwas hast du noch nie zuvor wahrgenommen. Du willst hier für immer bleiben. Dein Atem wird tiefer und dein Rausch intensiver.

 

Schöner neuer Rausch dank Terpenprofil

VR Waldbaden als Trend der Zukunft? Was passiert mit unserem Bewusstsein, wenn Kulisse und wahrgenommener Geruch nicht mehr zueinander passen? Foto: Alex Iby.

Was ist hier geschehen? Die virtuelle Realität bildet nicht mehr als die Kulisse für eine viel tiefergehende Erfahrung. Bevor du dich auf die Unterwasserwelt eingelassen hast, musstest du einen Fragebogen ausfüllen. Einige der Fragen kamen dir banal vor: „Welche ist Ihre Lieblingsfarbe?“ Andere waren schon eher intim: „Was bereitet Ihnen mehr Angst: ein dunkler Wald in der Nacht oder eine Menschenmenge?“ Diese Fragen dienen der Zuordnung eines Terpenprofils. Auf Grundlage einer riesigen Datenbank wurden psychologische Disposition und Empfindlichkeit sowie Empfänglichkeit für bestimmte Duftstoffe und Terpene ermittelt. Dein Profil hat eine von einem Algorithmus berechnete, genau auf dich abgestimmte Zusammensetzung ergeben. Diese ist so komplex, dass sie in eine Abfolge integriert wird. Ziel ist es, dich durch die Duftstoffe und Terpene langsam in einen Rauschzustand zu versetzen. Dabei hat jeder Mensch eine andere, bis zu einem gewissen Grad individuelle Vorliebe. Aber sie ist nicht so individuell, dass sie nicht typisiert werden könnte.

Noch wissen wir nicht, wie genau Terpene funktionieren – wir wissen nur, dass sie wirken. Die Forschung wird in einigen Jahren gewiss weitere Fortschritte erzielt haben. Heute ist bereits klar, dass Terpene einen direkten Einfluss auf Organismen haben. Das Waldbaden wird als Therapie genutzt, Terpene zur Unterstützung im Rahmen von Chemotherapien diskutiert. So ein individualisierter Rausch wie oben beschrieben wäre ohne die entsprechende Forschung und neue Technologien nicht möglich. An diesem Beispiel wird auch deutlich, wie wenig wir heute über die Wirkungsweise und die Zusammenhänge des Geruchssinns in Verbindung mit unserer Umwelt wissen. Nebenwirkungen werden den Terpenen bisher keine zugeschrieben: Eine Berauschung mit ihnen scheint also – so der Forschungsstand – sicher.

Weiterlesen Raven in der Mitte des 21. Jahrhunderts wird zur holistischen Erfahrung
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Kompendium: Kontrollierter Rausch

Raven in der Mitte des 21. Jahrhunderts wird zur holistischen Erfahrung

Kompendium: Kontrollierter Rausch

Raven in der Mitte des 21. Jahrhunderts wird zur holistischen Erfahrung

Wie könnte der Clubbesuch in der Zukunft aussehen? Wird sich der Rausch verändern? Foto: Martin Lopez.

Wie sieht der Club der Zukunft aus? Chemische Drogen braucht hier niemand mehr, aber der Rausch ist noch immer ein integraler Teil der Erfahrung. Wir tanzen im Jahr 2050.

 

Ein Tag im Club der Zukunft

Alle hier tragen Ohrstöpsel, aber nicht, weil es ihnen zu laut wäre. Es sind kleine Lautsprecher, deren biosensibles Material sich sofort der Ohrform anpasst. Für einen kurzen Moment hört man die Umgebung dumpfer, aber dann ist alles wie vorher. Die Musik entspringt nicht nur tragbaren Devices, sie wird auch aus den Wänden in die Menge getragen. Lautsprecher gibt es keine mehr: Stattdessen ist die Wand selbst ein Lautsprecher. Den Strom für den Rave am Tage erzeugen die Tanzenden selbst: Die kinetische Energie, die sie an den Boden abgeben, reicht dafür aus. Jeder Trommelschlag der künstlichen Drums versetzt die Zellen in Schwingung. Seit sich Musiker mit Forschern zusammengetan haben, hat sich die elektronische Musik verändert: War der Rausch vorher oft ein Nebeneffekt, wenn auch ein gewünschter, so hat sich das Sounddesign in den letzten Jahrzehnten immer mehr mit den Ergebnissen der biotechnologischen Forschung beschäftigt. Musik soll immer noch schön sein, aber sie soll auch etwas mit dem Körper machen. Und zwar nicht nur irgendetwas, sondern gezielt Stimmungen hervorrufen. Musik wird nun nicht mehr nur komponiert, sie wird auch so designt, dass sie neurochemische Prozesse auslöst – Serotoninausstoß dank Bass Drums und Synth-Melodien sozusagen. Wenn der Körper zu 70 % aus Wasser besteht, dann bringt ihn jede Soundwelle zum Schwingen.

Wie Tonfrequenzen und die körperliche Erfahrung zusammenhängen, ist der Wissenschaft noch nicht ganz klar, aber es gibt Ansätze. Da der Schall Materie in Schwingung versetzt, schwingt der Körper mit. Foto: Hulki Okan Tabak.

Wie Tonfrequenzen und die körperliche Erfahrung zusammenhängen, ist der Wissenschaft noch nicht ganz klar, aber es gibt Ansätze. Da der Schall Materie in Schwingung versetzt, schwingt der Körper mit. Weil er zu einem Großteil aus Wasser besteht, tut er dies besonders gut: So wird er selbst zum Resonanzkörper. Speziell in diesem Zusammenhang hat sich ein neues Genre herausgebildet, die „New Electronic Body Music“. Bei dieser Musikrichtung geht es darum, die körperliche Erfahrung der musikgesteuerten Ekstase zu erreichen. Aber auch die Tanzenden sind gefragt: Es reicht nicht aus, sich einfach der NEBM auszusetzen. Das richtige Mindset gehört dazu – und natürlich das ausgiebige Raven.

 

Zigaretten raucht hier keiner mehr, aber es wird gerauscht

Die Getränke sind – bis auf den hausgemachten Kombucha mit weniger als 1 % – alkoholfrei. Seit den großen landwirtschaftlichen Reformen der 2030er-Jahre gibt es Tabakplantagen für Zigaretten nicht mehr: Die dafür genutzten Flächen dienen jetzt wieder einer nachhaltigen Landwirtschaft. Stattdessen existieren hier Aroma-Puffs: kleine Sticks, die, ähnlich der antiquierten E-Zigarette, elektronisch gezündet werden und ätherische Öle enthalten, welche den Weg in den Rausch erleichtern sollen. Außerdem werden über die Wände nicht nur Schall, sondern auch kaum wahrnehmbare Duftstoffe in den Raum geblasen. Anstatt verunreinigte synthetische Drogen einzunehmen, suchen die Tanzenden hier den Rausch in ihren Körpern und in der Musik. Alles ist genau aufeinander abgestimmt: Soundfrequenzen, Technologie – und sogar die Getränke. Sie beinhalten Pflanzenstoffe, die anregend und entspannend wirken sollen. Der Rausch ist zwar nicht garantiert, aber er ist immer in greifbarer Nähe.

 

Der Rausch als ganzheitliche Erfahrung

Unkontrolliertes Berauschen und tagelanges Feiern werden in der Mitte des 21. Jahrhunderts der Vergangenheit angehören. Geraved wird nur noch mit kontrolliertem Rausch. Foto: Maurício Mascaro.

Getanzt wird hier tagsüber, weil niemand sich nur wegen ein bisschen Party den Schlafrhythmus kaputtmachen möchte. Zwei Gäste unterhalten sich an der Bar:

„Mein Großvater hat mir von Clubs in den frühen 2000er-Jahren erzählt – die haben um Mitternacht aufgemacht und dann konnte man da für 24 Stunden drinbleiben.“

„Krass, wie haben die das gemacht?“

„Ich glaub mit vielen chemischen Drogen. Aber so genau wollte er nicht drauf eingehen.“

„Krass, was dein Opa erlebt hat.“

„Ja, oder? Ich glaube, die hatten damals noch nicht so ein Gespür für sich, für ihren Körper. Die elektronische Musik war auch noch nicht so geil wie jetzt.“

Das Gegenüber schließt die Augen, hält sich einen Finger aufs Ohr.

„Tolles Gespräch, aber ich glaube, ich muss wieder auf die Tanzfläche. Die Musik macht gerade was mit mir, das muss ich erleben.“

Wie werden sich unsere Enkel an die Raves der letzten 30 Jahre erinnern? Clubkultur gibt es seit den Ballhäusern der 20er-Jahre: Sie hat sich immer wieder den Umgebungen und kulturellen Gegebenheiten angepasst. Der Rausch gehört in diese Räume der Gemeinschaft: Er braucht Vorbereitung, Zeit und Nachbereitung. Je weniger Schaden wir unserem Körper auf diesem Weg zufügen, desto nachhaltiger der Zustand der Euphorie. Das Bedürfnis nach einer gemeinschaftlichen Rauscherfahrung zu Musik, zu Rauch, zu Licht, zu Bewegung: Es scheint eine menschliche Konstante zu sein. Wir erfinden immer wieder neue Räume, in denen wir uns gemeinsam in einen Rausch versetzen können, der uns in Kontakt mit anderen Ebenen unseres Bewusstseins bringt. Ob wir dabei nach Antworten von Göttern suchen, nach Ablenkung oder Selbstfindung, das ist wohl uns selbst überlassen. Der Rausch aber hat eine Geschichte: Wenn wir uns ihm verantwortungsbewusst zuwenden, können wir diese um ein schönes Kapitel erweitern.

Zum Anfang Priesterinnen im Rausch blicken in die Zukunft
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Artwork: Frank Schröder.