Viele Legenden ranken sich um das Orakel von Delphi. Über Jahrhunderte hinweg beeinflusste der Tempel durch seine Weissagungen die Ausgestaltung der Politik. Die Priesterinnen, die hier in die Zukunft blickten, verkündeten ihre Orakelsprüche im Rausch.
Das Heiligtum des Apollon und seine mythischen Dämpfe
Im Innersten des Tempels stand eine riesige Statue des Gottes Apollon, vermutlich aus Gold. Ein reich geschmückter Altar beherbergte ein ewiges Feuer, das nur mit Tannenholz genährt wurde. Darüber hingen Lorbeerkränze, die als Dekoration und Räucherwerk zugleich dienten. Nur wenige hatten Zutritt zum Allerheiligsten des Tempels. Die Propheten (Priester) und die Hohepriesterin begaben sich hierher, wenn sie den Göttern lauschen wollten. Die Pythia, wie die Hohepriesterin auch genannt wurde, hatte ihren Namen von der mythischen Schlange Python. Apollon selbst erschlug dieselbe aus Rache: Die Schlange hatte seine Mutter fressen sollen, als diese mit ihm und seiner Schwester Artemis schwanger war. Das Blut des mythischen Geschöpfes verlieh dem Ort Delphi hellseherische Kräfte.
Eine der wichtigsten Quellen für die Geschehnisse in Delphi ist der antike Schriftsteller Plutarch (45–125), der selbst 30 Jahre lang Priester dort war. Aus seinen Schriften können wir den Prozess des Orakels rekonstruieren. So ist es möglicherweise abgelaufen: Für den Orakelspruch begab die Pythia sich in einen besonderen Bewusstseinszustand. Sie fastete drei Tage lang, trug nur einfache Kleidung und reinigte sich in einer heiligen Quelle. Jahrhundertelang vollzog sie dieses Ritual nur einmal im Jahr – am Geburtstag des Apollon, der über diesen Tempel wachte. Später, als die Nachfrage größer wurde, dann einmal im Monat. Bis zu drei Hohepriesterinnen waren gleichzeitig aktiv, um sich abwechselnd in einen Rauschzustand zu begeben. Dafür beugten sie sich über eine Erdspalte, über der ein Dreifuß stand. Aus der Erdspalte stiegen Dämpfe empor, welche die Pythia in ein Delirium versetzten. Dieses stellte Kontakt mit dem Gott Apollon her, dem sie dienten. Selbiger gestattete Einblicke in die Zukunft, welche die Pythia im Rausch stammelnd aussprach. Die sie begleitenden Priester notierten sich ihre Ausschweifungen und übersetzen sie. Die Orakelsprüche waren stets Auslegungssache: Ihre Deutung oblag jenen, die nach ihnen verlangten. Waren es wichtige Machthaber, konnte die Interpretation den Kurs der Geschichte bestimmen. Im Fall von Alexander dem Großen kam es erst gar nicht zu einem Spruch, denn der Legende nach suchte er die Pythia außerhalb der vorgegebenen Orakelzeiten auf. Sie versuchte ihn zu vertrösten, doch der Feldherr packte sie bei den Haaren und zerrte sie in den Tempel. Die Orakelpriesterin verlautete daraufhin: „Lass ab von mir, du bist doch unüberwindlich, Junge!“ Das genügte dem Heerführer: Er zog von dannen – und in die Schlacht.
Der Priesterinnenrausch war lange ein Mysterium für sich
Als die Ruinen des Tempels von Delphi gefunden wurden, gab es neben den literarischen Beschreibungen keinerlei Hinweise auf die Rauschzustände der Priesterinnen sowie deren Ursprung. War alles nur eine Legende? War der Rausch nicht mehr als eine faszinierende Geschichte? Erst im frühen 21. Jahrhundert fand die Wissenschaft eine plausible Erklärung für die Trancezustände der Priesterinnen: Das Geheimnis liegt in der geologischen Beschaffenheit des Geländes. In Zeiten seismischer Aktivität können Methan, Äthylen und andere Gase durch Kalksteinschichten aufsteigen. Ihr Geruch deckt sich genau mit der Beschreibung, die uns Plutarch hinterlassen hat.
Auch ein weiterer Nebeneffekt der Gase stimmt mit den Quellen der Antike überein: Sie können, wenn zu viel davon eingeatmet wird, zum Tod führen. In einer Studie aus dem Jahr 2002 heißt es, dass es durchaus eine natürliche Erklärung für die Rauschzustände der Priesterinnen und auch entsprechende Beweise dafür gibt. Wenn das Adyton – das Heiligtum – des Tempels ein kleiner, geschlossener Raum war und sich in diesem geringe Mengen von Gas über einen längeren Zeitraum ansammelten, würde das die beschriebenen Effekte erklären.
Tödlicher Rausch im Dienste der Götter
Die Priesterinnen begaben sich mit einem bestimmten Mindset und viel Vorbereitung in diesen kontrollierten Zustand der Euphorie. Sie nutzten den Rausch als Vehikel für eine höhere Bewusstseinsebene. Ihre Ekstase war kein Hedonismus, sondern eine zielgerichtete und geregelte Suche nach Wahrheit. Diese Wahrheit suchten sie nicht für sich selbst, sondern für ihre Bittsteller aus der Gemeinschaft.
Die Rauschkammer der Priesterinnen war bestens geschützt: Niemand, der nicht Teil des Rituals war, konnte Zugang zu ihr erlangen. Zudem spielten die Priesterinnen eine besondere Rolle innerhalb der Gemeinschaft: Nur sie durften sich dem Rausch widmen – und das Risiko eines durch die Gase ausgelösten Todes verlieh ihrem Unterfangen noch mehr Nachdruck. Dieser heilige Rausch verfolgte klare Ziele, auch wenn die Orakelsprüche selbst nicht immer einfach zu entschlüsseln waren.