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Foto: Ron Lach

Digitaler Zwilling: Wie Systembiologie die Medizin verändern wird

Ein digitales Abbild soll die persönliche Gesundheit vorhersagen können – mithilfe von Big Data und künstlicher Intelligenz. Kann das funktionieren?

Navigationssysteme bringen uns zielsicher von A nach B. Sie berechnen verschiedene Routen, kalkulieren Stau ein, kennen die durchschnittliche Geschwindigkeit und wissen meist ziemlich genau, wann wir ankommen. Dieses Prinzip soll in Zukunft auf das Gesundheitssystem übertragen werden, und zwar mit einem sogenannten digitalen Zwilling. Dabei wird ein Programm mit allen relevanten Gesundheitsdaten von deinem Körper gefüttert, um dann vorherzusagen, wie der Körper auf gewisse Behandlungen und Verhaltensweisen reagieren wird. Kein mühseliges Aktensammeln in der Arztpraxis, keine unerwarteten Nebenwirkungen von Behandlungen, keine Fehlkommunikation zwischen Mediziner*in und Patient*in. Dieses Navigationssystem kann simulieren, wie der Organismus auf Medikamente reagiert. Oder es kann dir sagen, wie sich der Körper verändert, wenn man sich dazu entschließt, ab heute jeden Abend joggen zu gehen. Oder doch lieber zwei Bier zu trinken. Klingt verlockend, oder?

Dieser digitale Zwilling könnte mithilfe der Systembiologie Wirklichkeit werden. Darin werden lebendige Prozesse mithilfe von Algorithmen und Formeln berechnet und vorhergesagt, wie sich das Leben in Zukunft weiterentwickeln wird. Bereits während der Corona-Pandemie war Systembiologie Teil unseres Alltags: Etwa dann, wenn Modellrechnungen darüber durchgeführt wurden, wie viele Kontakte Menschen haben werden und wie sich daraufhin der Inzidenzwert verändern wird. Ähnlich könnte der digitale Zwilling funktionieren. Eine digitale Datenplattform, ausgestattet mit den Formeln und Algorithmen der Systembiologie, die persönliche Gesundheitsdaten verarbeiten, um zielgenaue Prognosen zu treffen – wie ein Navigationssystem eben. Doch wie funktioniert dieses Prinzip?

Mithilfe der Systembiologie könnte der digitale Zwilling Wirklichkeit werden. Darin werden lebendige Prozesse mithilfe von Algorithmen und Formeln berechnet und vorhergesagt, wie sich das Leben in Zukunft weiterentwickeln wird. Bild: Markus Spiske

Digitaler Zwilling: Ein Avatar mit Potenzial

Der menschliche Organismus besteht aus rund 40 Billionen Zellen und ist natürlich um einiges komplexer, als es der Algorithmus eines Navigationssystems erfassen könnte. Forscher*innen arbeiten daran, die vielen Prozesse des Körpers in Datensätzen zu sammeln, um so irgendwann jedes Detail des menschlichen Organismus individuell abbilden zu können. Die gebündelte Verfügbarkeit dieser Daten könnte medizinische Behandlungen grundlegend verändern, meint Dr. Peter Spork, Wissenschaftsautor und Biologe, der in seinem Buch „Die Vermessung des Lebens“ den Potenzialen der Systembiologie auf den Grund geht. „Werden alle relevanten Daten im digitalen Zwilling gesammelt, können Ärzt*innen anhand dessen über Behandlungen entscheiden und haben so wieder mehr Zeit, sich aktiv mit Patient*innen auseinanderzusetzen. Das könnte zu einer Rückkehr der sogenannten Sprechenden Medizin führen, die den Fokus auf die Kommunikation zwischen Mediziner*in und Patient*in legt”, so Spork. Er sieht darin die Möglichkeit, das Gesundheitssystem in Zukunft auf Prävention aufzubauen, anstatt auf die Behandlung von Symptomen, die häufig erst dann auftreten, wenn Krankheiten schon fortgeschritten sind und dadurch die Wahrscheinlichkeit auf Genesung sinkt.

Der Forscher und ehemalige Präsident des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik, Prof. Hans Lehrach, sieht im digitalen Zwilling auch wirtschaftliches Potenzial: „Durch bessere individualisierte Prävention könnten wir fast die Hälfte der 4,5 Milliarden Euro einsparen, die wir in Europa pro Tag für unser Gesundheitssystem ausgeben. Diese Kosten steigen in Deutschland deutlich stärker an, als das Bruttonationalprodukt. Man muss kein Wirtschaftswissenschaftler sein, um zu sehen, dass das in einer alternden Gesellschaft nicht haltbar ist“, sagt der Forscher in einem Interview mit der Stiftung Charité.

„In allen anderen Bereichen ist die Entwicklung von Computermodellen längst etabliert: Virtual-Crash-Tests, Wettervorhersagen, Flugzeugmodelle und vieles mehr. In der Medizin wurde das noch nicht erkannt”, sagt der Forscher und ehemalige Präsident des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik, Prof. Hans Lehrach. Bild: Camilo Jimenez

Warum die Medizin bisher weniger mit Computer-Simulationen vertraut ist als andere Bereiche, erklärt er sich anhand des gängigen Finanzierungsmodells: „In allen anderen Bereichen ist die Entwicklung von Computermodellen längst etabliert: Virtual-Crash-Tests, Wettervorhersagen, Flugzeugmodelle und vieles mehr. Diese Entwicklungen gab es natürlich nicht ohne beträchtliche finanzielle Zuwendungen. In der Medizin wurde das noch nicht erkannt. Dort werden nur Erneuerungen finanziert, die im Moment der Finanzierung bereits Kosten sparen.“

Neben der personalisierten Behandlung von Patient*innen, die auch heute mittels KI und Gesundheits-Apps wie Ada stattfindet, könnte der digitale Zwilling auch die Forschung erleichtern. Forschende wären in der Lage, zahlreiche medizinische Studien durchzuführen, ohne Patient*innen einem Risiko auszusetzen. Die Hoffnung, die in den digitalen Zwilling gesetzt wird, ist also groß, – genauso wie die Bereitschaft in der Bevölkerung: Eine Studie von PwC hat herausgefunden, dass 83 Prozent der Deutschen schon heute dazu bereit wären, ein Testmodell von sich anlegen zu lassen.

Wer entscheidet, was gesund ist?

In Teilen sammeln Menschen ihre individuellen Gesundheitsdaten ohnehin schon – mit Hilfe von Fitnesstrackern, die von Sauerstoffsättigung im Blutkreislauf bis zum weiblichen Zyklus viele relevante Infos aufzeichnen und speichern. Der digitale Zwilling wäre dann die Fortsetzung davon. Wichtig ist dabei aber, dass Menschen Entscheidungen auf Basis ihrer Daten selbst treffen können. Wie auch im heutigen Gesundheitssystem sollen Mediziner*innen mit Fachwissen beratend zur Seite stehen; die schlussendliche Entscheidung aber muss bei der Person liegen, zu der der digitale Zwilling gehört. Dr. Peter Spork meint: „Der digitale Zwilling ist nur ein Computer mit unendlicher Geduld. Er macht keine Vorschriften, sondern ist ein Werkzeug, mit dem sich die persönliche Freiheit erhöhen lässt, weil man schon vorher berechnen kann, wie sich das Leben unter bestimmten Bedingungen verändern wird.“ Er dient als Entscheidungshilfe: Auf welches Medikament reagiert mein Körper gut? Wie soll ich mich verhalten, wenn ich in einem Jahr einen Marathon laufen möchte? Wie erhalte ich bei chronischen Krankheiten wie etwa Diabetes meine individuelle Lebensqualität? Kommen die Gesundheitsdaten aber in die falschen Hände und bewerten etwa Krankenkassen, der Staat oder Konzerne anstelle der Menschen selbst, was als positiv und negativ zu sehen ist, so kippt das Potenzial des Zwillings. Denn auch, wenn die Bereitschaft der Deutschen groß ist, den digitalen Zwilling zu testen, sorgen sich laut PwC-Studie 80 Prozent um den Schutz ihrer medizinischen Daten.

Mit dem digitalen Zwiling wären Forschende in der Lage, zahlreiche medizinische Studien durchzuführen, ohne Patient*innen einem Risiko auszusetzen. Bild: National Cance Institute Bild: Yuyeung Lau

Wie kann Datenmissbrauch verhindert werden?

„Wir müssen schon heute dafür sorgen, dass wir in Zukunft selbst über unsere Daten entscheiden können“, sagt Spork. Der Biologe kann sich vorstellen, dass es irgendwann Datenberater*innen gibt, die in Zukunft Ratschläge zum richtigen Umgang mit den eigenen Daten geben, wie es etwa Finanzberater*innen heute tun. Erste Lösungsansätze gibt es auch bei Datengenossenschaften, die das gesammelte Material treuhänderisch verwalten und User*innen entscheiden können, wer die Daten zu welchen Zwecken nutzen darf. Zusätzlich könnte man so mit seinen eigenen Daten Geld verdienen – sofern die Entscheidungsmacht bei den Menschen selbst bleibt. Diese neuen Entscheidungsmöglichkeiten werfen Fragen auf, die nicht nur medizinischer Natur sind, sondern auch Ethik und Philosophie kreuzen und für die es klare Rahmenbedingungen braucht, die erst entwickelt werden müssen. Eine Idee wäre die Anpassung des hippokratischen Eids auch bezüglich einer transparenten Datenethik. Doch bis die Technik soweit ist, dass sie den Alltag beeinflusst, liegt laut Dr. Peter Spork noch ein weiter Weg vor uns: „Ich denke, in etwa zehn Jahren wird es digitale Modelle von einzelnen Organen wie etwa der Bauchspeicheldrüse geben, an der dann Behandlungen simuliert werden können”, sagt der Wissenschaftsautor. „Bis zum perfekten digitalen Zwilling dauert es mindestens noch 30 bis 50 Jahre.“ Wenn bis dahin Daten gesichert und verantwortungsbewusst verwaltet werden, dann könnte die Systembiologie die Medizin durchaus revolutionieren – weg von der Behandlung von Symptomen, hin zu echter Prävention.