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Kompendium: Mobile Health

Mit Covid-19 erleben wir seit Beginn dieses Jahres die heftigste Pandemie seit der Spanischen Grippe. Sie stellt die Länder der Welt auf die Probe und gilt als historische Zäsur. Die Berliner KI-App Ada will dabei helfen, die Infektionszahlen besser zu verstehen, und Menschen eine Navigationshilfe bieten.

Kompendium: Mobile Health

Intelligente Technologien könnten die Medizin grundlegend demokratisieren und Arzt- oder Krankenhausbesuche in manchen Bereichen sogar überflüssig machen – durch vereinfachten Zugang zu Patientendaten. Aber zu welchem Preis?

Kompendium: Mobile Health

Was, wenn Ärzte, anstatt lediglich auf Krankheiten zu reagieren, mobile Unterstützung für alle Lebensbereiche – wie Schlaf, Diät, Sex und Sport – geben würden? Digital gesteuerte „Care Hubs“ könnten wie Flugkontrollzentren fungieren, die den Gesundheitszustand der Bürger aus der Ferne überwachen.

Kompendium

Die Geschichte der Mobile Health (mHealth) reicht von den Pestärzten des Mittelalters bis hin zu den Diskussionen rund um Contact Tracing im Kontext der Coronavirus-Pandemie. In dieser Technologie liegt großes Potenzial, den Gesundheitssektor grundlegend zu demokratisieren. Zugleich wirft mHealth neue Fragen hinsichtlich Überwachung und Datenschutz auf. Wie viel Mobilität benötigt der Gesundheitssektor, ohne dabei die Privatsphäre der Patienten hintanzustellen?

Kompendium: Mobile Health

Zwischen den Jahren 1346 und 1356 wütete die Pest – sie gilt als verheerendste Pandemie, die je dokumentiert wurde. Aus der Pest erwuchs in Europa die Praxis der epidemiologischen Überwachung.

Kompendium: Mobile Health

Indem sie das medizinische Denken stärker auf das Individuum hin ausrichtete, legte die Krankenakte den Grundstein für den mHealth-Gedanken. Die Erfindung des Telefons trug zum mobilen Gesundheitssystem, wie wir es heute kennen, maßgeblich bei.

Kompendium: Mobile Health

Wie Pestärzte im Mittelalter den „Schwarzen Tod“ bekämpften

Kompendium: Mobile Health

Wie Pestärzte im Mittelalter den „Schwarzen Tod“ bekämpften

Theodor Zwinger der Ältere war ein eidgenössischer Gelehrter, Arzt und Medizinprofessor (1658-1724). Dieses Porträt zeigt ihn in seiner Arbeitsuniform und in Zivil. Wellcome Collection. (CC BY 4.0)

Zwischen den Jahren 1346 und 1356 wütete die Pest – sie gilt als verheerendste Pandemie, die je dokumentiert wurde. Pestärzte bewegten sich oft zwischen Städten und Gemeinden, um selbst dem Schlimmsten zu entgehen oder um dort zu helfen, wo es noch nicht zu spät war. Aus der Pest erwuchs in Europa die Praxis der epidemiologischen Überwachung.

Wer im Mittelalter geboren wurde, hatte nicht gerade das beste Los der Geschichte gezogen. In stinkenden Seitengassen, durch Überträger wie Ratten und Fliegen und infolge des allgemein niedrigen Hygienestandards Mitte des 14. Jahrhunderts verbreitete sich die Pest in rasendem Tempo. Aufgrund ihrer Tödlichkeit wurde die Krankheit als „Schwarzer Tod“ bekannt. Angeblich von China ausgehend dezimierte sie weltweit Millionen Menschen. Binnen kurzer Zeit beherrschte sie Zentralasien und erreichte im Jahr 1347 über Handelswege Sizilien, von wo die Krankheit sich praktisch in ganz Europa und im Nahen Osten ausbreitete. Heute geht man davon aus, dass die Pest im 14. Jahrhundert knapp ein Drittel der damaligen Bevölkerung Europas dahinraffte. Panik und Entsetzen beherrschten Europa in den Hochjahren der Pandemie.

Abbild eines Talismans gegen die Pest. Credit:

Aus dem Unwissen über die Krankheit speisten sich Mythos und Aberglaube

„Wie würden die Menschen unserer Tage, wie würden wir selbst reagieren, wenn wir plötzlich mit einer der Pest vergleichbaren Seuche konfrontiert würden, das heißt: wenn von heute auf morgen der Tod wie eine Grippe oder wie Schnupfen übertragen würde?“ Mit dieser rhetorischen Frage versuchte der Kölner Medizinhistoriker Klaus Bergdolt die Auswirkungen der Pest-Pandemie auf das Sozialleben und die Mentalität des Mittelalters in seinem Standardwerk zum Schwarzen Tod zu verdeutlichen. Die medizinischen Ansätze zur Heilung der Pest blieben damals in den meisten Fällen erfolglos.

Aus heutiger Sicht wirken viele der Traktate, hinter denen die Schulmedizin des 14. Jahrhunderts ihre damalige Hilflosigkeit zu verstecken versuchte, geradezu komisch. So gingen viele etwa von einer Übertragung der Krankheit durch sprichwörtlich verpestete Luft aus, manche gar von Ansteckung durch Blickkontakt. Andere empfahlen Diäten rund ums Hühnchen, was sich letztlich als ebenso nutzlos herausstellte.

In Zeiten der Pest lebten Pestärzte oftmals mobil

Das Kostüm bestand aus einem Schutzanzug mit gewachstem Stoffüberzug sowie einer Maske mit Augenöffnungen aus Glas und der charakteristischen schnabelförmigen Nase. Oft trugen die Pestärzte auch einen Stock bei sich, um Patienten ohne direkten Körperkontakt untersuchen zu können. Foto: Nach dem Kupferstich des Pestarztes Dr. Schnabel aus Rom von Paul Fürst um 1656. Pestarzt, Eigentümer: Dv8stees, via Wikimedia Commons, (CC BY-SA 4.0).

Die Verzweiflung zur Zeit des Schwarzen Todes war so enorm, dass sich sogar renommierte Ärzte der Astrologie zuwandten und die Krankheit – anstatt die altbekannten Methoden anzuwenden – auf vermeintlich missliche Planetenkonstellationen und andere theologisch-spirituelle Deutungsmuster zurückführten. So verwies der Berliner Arzt Leonard Thurneisser im Jahr 1576 in seinem „Regiment“, einer Pestschrift, die zu Aufklärungs- und Präventionszwecken gedacht war, auf diverse Konstellationen von Sonne, Mond und Mars, welche die Krankheit angeblich förderten. Zudem empfahl er insgesamt 87 pflanzliche sowie tierische und als „Schutzmittel“ deklarierte Substanzen – darunter Alandwurtz, Bilsenkrautsaft, Eichenlaub, Granatwein und Melissenwasser. Außerdem interpretierte er die Krankheit als eine Strafe Gottes für ein „sündhaftes“ Leben.

Viele Ärzte seiner Zeit erkannten allerdings auch, dass die als Arzneien angepriesenen Mittel auf den tödlichen Verlauf der Krankheit keinen wirklichen Einfluss hatten oder sie in manchen Fällen sogar beschleunigten. Oftmals sahen sie sich zur Flucht gezwungen, um ihr eigenes Leben zu retten oder um dort zu agieren, wo sie es noch für sinnvoll erachteten. In ihrem Artikel „Doctors of the Black Death“ argumentiert die Wissenschaftlerin Jackie Rosenhek, dass Pestärzte es oft zu vermeiden versuchten, längere Zeit an einem Ort zu verharren. Häufig zogen sie von Stadt zu Stadt und lebten, soweit dies möglich war, unter restriktiver Quarantäne. Wo sie gebraucht wurden, kümmerten sich viele von ihnen aber längst nicht nur um die Behandlung und Heilung von Pestopfern.

Tatsächlich waren die Aufgaben der Pestärzte oft eher mathematischer als medizinischer Natur: Sie zählten etwa Todesopfer und verzeichneten Todesfälle in regionalen Logbüchern. Manchmal wurden sie gar gebeten, an Autopsien teilzunehmen und Testamente zu bezeugen. Angeblich ließen manche von ihnen sterbende Patienten und deren Familien für Spezialbehandlungen oder falsche Heilmittel oft einen zusätzlichen Betrag zahlen. Und dennoch waren die Pestärzte hoch angesehen: Vereinzelt sollen sie sogar entführt und gegen Lösegeld festgehalten worden sein.

Foto: Ausschnitt aus “Der Triumph des Todes”, von Jan Brueghel dem Älteren, via Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Die Schnabelmaske als Schutz gegen Übertragung

Die Erfahrung der Pest im 14. Jahrhundert hinterließ deutliche Spuren. In den darauffolgenden Jahrhunderten fingen einige Pestärzte an, die charakteristischen schwülstig und furchterregend wirkenden Schnabelmasken zu tragen, die mit Kräutern und Flüssigkeiten wie Wacholder, Rosen und Nelken sowie mit in Essig getränkten Schwämmen gefüllt waren. Sie sollten die Atemluft filtern und damit vor sogenannten „Miasmen“ schützen – angeblich aus der Erde aufsteigende, krankheitserregende Ausdünstungen. Heute geht man davon aus, dass der französische Arzt Charles de L’Orme die Uniform im 16. Jahrhundert im Dienst von Louis XIII erfand. Das Kostüm bestand aus einem Schutzanzug mit gewachstem Stoffüberzug sowie einer Maske mit Augenöffnungen aus Glas und der charakteristischen schnabelförmigen Nase. Oft trugen die Pestärzte auch einen Stock bei sich, um Patienten ohne direkten Körperkontakt untersuchen zu können.

Epidemiologische Überwachung als Resultat der Seuchenerfahrung

Foto: Ein späteres Beispiel handschriftlicher epidemologischer Aufzeichnungen aus dem cholerageplagten London des 19. Jahrhunderts, nach dem Original von Dr. John Snow (1813-1858), einem britischen Arzt und Mitbegründer der medizinischen Epidemiologie, via Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Die moderne Praxis der Dokumentation von Sterblichkeitsraten lässt sich auf die Entstehung des wissenschaftlichen Denkens in der Renaissance zurückführen, konkret aber auch auf die Arbeit der Pestärzte, die während der Pestepidemie damit begannen, über die Zahl der Toten Buch zu führen und diese Aufzeichnungen zu kommunizieren. Die WHO definiert diese sogenannte epidemiologische Überwachung als „kontinuierliche, systematische Sammlung, Analyse und Interpretation gesundheitsbezogener Daten, die für die Planung, Durchführung und Bewertung der Praxis des öffentlichen Gesundheitswesens benötigt werden“. Weniger sperrig formuliert: Sie funktioniert wie eine Art Frühwarnsystem für gesundheitliche Notfälle und half im historischen Kontext, die Wirksamkeit der Medizin zu bewerten.

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Die Anfänge von Remote Health – dank Telefon & Krankenakte

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Die Anfänge von Remote Health – dank Telefon & Krankenakte

Diese Postkarte von 1910 war eine Werbemassnahme für das Telefon. Damals musste der Arzt immer einen Hausbesuch abstatten um sich über den Zustand, des Patienten zu informieren.

Indem sie das medizinische Denken stärker auf das Individuum hin ausrichtete, legte die Krankenakte den Grundstein für den mHealth-Gedanken. Die Erfindung des Telefons trug zum mobilen Gesundheitssystem, wie wir es heute kennen, maßgeblich bei.

Die Erfindung der Krankenakte

Seit Einführung der elektronischen Patientenakte, die in Deutschland allen Krankenversicherten ab Anfang 2021 zur freiwilligen Verwendung angeboten werden soll, erscheinen nicht-elektronische Kranken- oder Patientenakten aus Pappe und Papier wie sperrige Relikte aus einer altertümlichen Vorzeit. Als Krankenakten allerdings erstmals aufkamen, bedeuteten sie eine kleine Revolution. In Deutschland vollzog sich der Übergang von allgemein-medizinischen Niederschriften hin zur standardisierten und personalisierten Krankenakte ca. Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Archiv der Berliner Charité lassen sich die ersten Krankenakten dieser Art in die 1850er Jahre zurückverfolgen.

Ursprünglich dienten sie der Erweiterung des medizinischen Wissenskanons. Im Laufe der Zeit aber wurden sie immer mehr auf das spezifische Wohlergehen der jeweiligen Patienten hin ausgerichtet. So halfen die Krankenakten ganz konkret dabei, den individuellen Krankheitsverlauf besser zu verstehen, dynamischer auf Veränderungen zu reagieren und letztlich effektivere Heilmethoden zu entwickeln. Von den diversen Prozessen der modernen Gesundheitsvorsorge bis hin zur Unterstützung der Medizin durch digitale Anwendungen: All dies wäre ohne den Perspektivwechsel hin zum individuellen Behandlungsempfänger – den die Krankenakte vorbereitete und vorantrieb – kaum denkbar.

Krankenakten im Zeitalter der epidemiologischen Kontrolle

Krankenakten enthalten alle jene Informationen, die ein Arzt für die Behandlung benötigt: die Identität des Patienten, den Grund für den Arztbesuch und die Anamnese. Foto: Paul Ehrlich in seinem Arbeitszimmer in FFM, fotografiert von Waldemar Franz Hermann Titzenthaler, via Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Während der großen Epidemien des 20. Jahrhunderts, also insbesondere in den Hochzeiten der Spanischen Grippe zwischen 1918 und 1920 sowie HIV Mitte der 1980er Jahre, bestand die epidemiologische Überwachung insbesondere in der ausführlichen Datenerhebung. So wurde die Anzahl der betroffenen Menschen ebenso dokumentiert wie die Zahl derer, die medizinisch versorgt werden mussten. Krankenakten lieferten hierfür den ersten Anlaufpunkt. Durch sie ließen sich die Zahlen verlässlich katalogisieren und bewerten.

Gerade im Fall von HIV entfachte die Frage der medizinischen Kontrolle jedoch immer wieder heftige Debatten über Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. So wurden die aus der Gesundheitsüberwachung abgeleiteten Daten über die ungleiche Verteilung der Infektionszahlen zwischen hetero- und homosexuellen Menschen etwa immer wieder leichtfertig zur Diskriminierung von LGBT-Personen missbraucht.

Ursprünglich dienten Patientenakten der Erweiterung des medizinischen Wissenskanons. Im Laufe der Zeit aber wurden sie immer mehr auf das spezifische Wohlergehen der jeweiligen Patienten hin ausgerichtet. Foto: rawpixel.

Was Krankenakten in sich tragen

Krankenakten enthalten alle jene Informationen, die ein Arzt für die Behandlung benötigt: die Identität des Patienten, den Grund für den Arztbesuch, die Geschichte der Symptome und der Anamnese, bisherige Behandlungsergebnisse sowie Empfehlungen, die sich daraus ableiten. Krankengeschichten bieten behandelnden Ärzten die Möglichkeit, Rechenschaft über die Behandlung abzulegen, und entwickelten sich so im Lauf der Jahrzehnte zu einem Garant für die Qualitätssicherung in der Medizin.

Die hohe Informationsdichte in den Krankenakten machte sie jedoch nicht nur für Patienten und deren Familien oder Hinterbliebene wichtig, sondern auch für Gerichte, Staatsanwaltschaften und Gutachter sowie für Versicherungsträger und Wissenschaftler. An der Bearbeitung der Akten waren bald nach ihrer Einführung nicht mehr nur Ärzte beteiligt, sondern sämtliches Personal, das sich mit Patienten beschäftigt: Krankenschwestern, Physiotherapeuten, Ernährungswissenschaftler und Psychologen. In die elektronische Krankenakte, auf die Patienten vereinfachten Zugriff hätten, würden sich zudem Rezepte integrieren lassen, die dann problemlos etwa mithilfe einer App in Apotheken eingelöst werden könnten.

Das Telefon ermöglichte die „Remote“-Gesundheitsversorgung

Um 1932 träumten man schon von medizinischen Behandlungen über den Fernseher. Zeichnung: D.L. Ghilchip, 1932. via Wikimedia Commons, Welcome Collection (CC BY 4.0)

Neben der Krankenakte war in den letzten Jahrhunderten jedoch noch eine zweite Neuerung elementar für die Entwicklung der mobilen Gesundheitsindustrie: die Erfindung des Telefons. Für den Hausgebrauch wurden Telefone schon Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt, in Europa und den USA waren sie jedoch erst Mitte des 20. Jahrhunderts massentauglich. Heute sind Telekommunikationssysteme in den meisten Ländern aus der medizinischen Grundversorgung kaum wegzudenken – von der telefonischen Absprache eines Arzttermins über die Rezeptbestellung bis hin zur Telefonbetreuung.

Dienste zur Stärkung der geistigen und körperlichen Gesundheit – wie Psychotherapien und Fitness-Sessions – lassen sich einfach telefonisch oder mithilfe von Videoprogrammen wie Zoom mobil und von zu Hause aus durchführen. Allgemein vereinfachen Smartphones die mobile Arztsuche und verstärken die Konkurrenz zwischen Ärzten im Gesundheitssektor. Bei aufkommenden Krankheitssymptomen konsultieren viele heute zuallererst Google anstatt des Hausarztes. Da die Google-Suche für eine zielgenaue Symptomerkennung wenig geeignet ist, versucht ein Berliner KI-Start-up, diese Lücke zu füllen.

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Artwork: Frank Schröder.
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mHealth-Start-ups: mit dem Smartphone gegen Covid-19

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mHealth-Start-ups: mit dem Smartphone gegen Covid-19

Mithilfe einer eigens entwickelten KI für Symptomerkennung will die mHealth-App Ada medizinisches Personal entlasten. Foto: Ada.

Mit Covid-19 erleben wir seit Beginn dieses Jahres die heftigste Pandemie seit der Spanischen Grippe. Sie stellt die Länder der Welt auf die Probe und gilt als historische Zäsur. Die Berliner KI-App Ada will dabei helfen, die Infektionszahlen besser zu verstehen, und Menschen eine Navigationshilfe bieten.

Aufgrund der Coronavirus-Pandemie ist das Gesundheitssystem in vielen Ländern derzeit extrem überlastet. Medizinisches Fachpersonal setzt sich dabei einem kontinuierlichen Gesundheitsrisiko aus. Mithilfe einer eigens entwickelten KI für Symptomerkennung will die mHealth-App Ada medizinisches Personal entlasten. Wie das Berliner Start-up Symptome erkennen und Vordiagnosen über mobile Endgeräte liefern kann, erklärt Daniel Nathrath, CEO von Ada.

Aufgrund der Coronavirus-Pandemie ist das Gesundheitssystem in vielen Ländern derzeit extrem überlastet – das mHealth Start up könnte Abhilfe schaffen. Foto: Daniel Nathrath / Ada.

Was ist die Grundidee von Ada?

Die Grundidee ist, dass man jedem Menschen ein Tool an die Hand gibt, um die eigene Gesundheit besser einschätzen und die passenden nächsten Schritte einleiten zu können. Entscheidend dabei ist, dass Informationen personalisiert werden. Die Reise des Patienten fängt heute eben nicht mehr im Wartezimmer an, sondern schon zu Hause – und für die meisten Leute heißt das: bei Google. Zwar ist das ein super Tool für die allgemeine Informationssuche, aber wenn man versucht, etwas über seine eigene Gesundheit herauszufinden, reichen zwei bis drei Suchworte eben nicht aus. Die Informationen sind nicht personalisiert. Es gibt ja Gründe, warum ein guter Arzt bei der Anamnese mehr als nur eine Frage stellt. Das ist es, was wir bei Ada nachempfunden haben. Über fast zehn Jahre hinweg haben wir eine KI entwickelt und eine medizinische Wissensbasis aufgebaut. Das User-Interface ist so gestaltet, dass die App funktioniert, als hätte man einen Arzt in der Hosentasche, den man 24 Stunden am Tag erreichen kann – und mit dem eine Art WhatsApp-Chat möglich ist.

Sie erwähnten die Ada-KI: Können Sie erklären, wie dieses System funktioniert?

Dabei handelt es sich um ein sogenanntes probabilistisches System, das nach Wahrscheinlichkeiten forscht – basierend auf der jeweiligen Symptomkonstellation sowie den individuellen Risikofaktoren. Wir arbeiten daran, auch weitere Faktoren einzubeziehen, etwa Labortests und Sensordaten, in Zukunft vielleicht sogar die genetische Prädisposition. Ada berücksichtigt die Faktoren, die auch ein sehr guter Arzt beachten würde, wenn er eine Beurteilung der gesundheitlichen Situation eines Patienten abgeben möchte. Das System gibt dem Patienten, basierend auf diesen Datenpunkten, eine möglichst genaue Einschätzung.

Wie verändert sich die Rolle von Ada in Zeiten von Covid-19?

Das Coronavirus hält derzeit beinahe alle Länder dieser Welt in Schach. Können Apps dabei helfen, sich selbst vor der Ansteckung zu schützen? Foto: CDC.

Seit Covid-19 sehen wir, dass die Nutzung noch einmal zugenommen hat. Das Bedürfnis der Menschen, sich über die eigene Gesundheit zu informieren, ist definitiv gestiegen. Was wir jetzt beobachten, ist, dass immer mehr Menschen Ada nicht nutzen, weil sie ihre Symptome verstehen möchten, sondern weil sie eine Antwort auf die folgende Frage haben wollen: „Habe ich Covid-19?“ Deshalb haben wir ein sogenanntes „COVID19-Tracking-Tool“ gebaut. Das funktioniert etwas anders als die probabilistische Intelligenz und hilft Leuten relativ schnell dabei, festzustellen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie sich mit Covid-19 infiziert haben. Dabei berücksichtigen wir die Empfehlungen der jeweiligen Regierungen und wissenschaftlichen Institutionen, die sich über die Zeit ja ändern. Darüber hinaus gibt das Tool Empfehlungen, wie man sich in der individuellen Situation verhalten sollte. Wenn man nur milde Symptome hat, sollte man z. B. momentan nicht direkt in Krankenhäusern oder in der Notaufnahme auftauchen. Hier können Tools wie Ada helfen, Menschen Vorabinformationen und entsprechende Navigationshilfe zu bieten.

In China wurden zu Anfang der Coronakrise drakonische Maßnahmen ergriffen. Neben restriktiven Quarantänen wurden Apps entwickelt, die Bürger warnen, wenn sie sich in der Nähe infizierter Menschen befinden. Was halten Sie von solchen Maßnahmen?

Sie meinen die sogenannten „Contact Tracing“-Apps, mithilfe derer man sehen kann, ob sich jemand mit dem Virus in der Nähe aufgehalten hat, um so das eigene Risiko besser einschätzen zu können. Prinzipiell machen wir bei Ada nur Symptom-Assessment und kein Contact Tracing. Das Thema muss gesamtgesellschaftlich betrachtet werden. Die Frage lautet: Was ist der stärkere Eingriff in die Freiheitsrechte? Dass man Leuten ermöglicht, auf freiwilliger Basis an einem solchen Contact Tracing teilzunehmen? Oder dass man ihnen über weitere Wochen strenge Kontaktbeschränkungen auferlegt? Da könnte man durchaus argumentieren, dass die Nutzung einer App den geringeren Eingriff darstellt – insbesondere, wenn das bedeutet, dass man damit die Einschränkungen potenziell früher aufheben kann. Wir unterstützen solche Lösungen, wenn sie den Datenschutz berücksichtigen und auf Freiwilligkeit beruhen.

Werden meine Daten bei Ada gespeichert? Erstellt die App ein individuelles Symptomprofil von mir?

Ja, die Registrierung soll schließlich dazu dienen, dass das System über die Zeit hinweg „schlauer“ wird. Wenn Ihr Hausarzt Amnesie hätte und Ihnen beim zweiten Besuch schon wieder dieselben Fragen stellen würde wie beim ersten, würden Sie wahrscheinlich auch sagen: Wie doof ist das denn? Das ist für uns der Hintergrund, dass wir zum Beispiel bestimmte Risikofaktoren nicht jedes Mal aufs Neue abfragen. Unsere Sicherheitsarchitektur folgt dem Prinzip ‚Security by Design‘. Es erfolgt eine strikte Trennung der persönlichen Nutzerdaten von den medizinischen Informationen. Es werden ausschließlich verschlüsselte Daten gespeichert und übertragen. Es geht darum, dem Nutzer die bestmöglichen Hinweise zukommen zu lassen. Wenn man in die Zukunft blickt, wäre es so, dass man ein System hätte, das wie ein Frühwarnsystem für die eigene Gesundheit funktioniert. Wo man, selbst wenn man nicht aktiv danach sucht, einen Hinweis erhält: Vorsicht, da bahnt sich etwas an.

Gibt es denn schon eine Vorstellung, wie medizinische Institutionen solche Ideen in Zukunft integrieren können?

Sinnvoll wäre es zum einen auch aus Sicht vieler Akteure, mit denen wir im Gesundheitssystem sprechen, die Zeit zu verringern, die ein Arzt damit verbringt, simple Fragen zu stellen. In der Pandemie sehen wir mehr denn je: Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger usw. sind die wertvollste Ressource in diesem System. Je mehr wir sie entlasten und ihnen Zeit freischaufeln, indem wir sie von Bürokratie befreien und ihnen Aufgaben abnehmen, die sich im Vorfeld regeln lassen, desto besser! Der Patient hat deshalb schon heute die Möglichkeit, das, was er vorab bei Ada eingegeben hat, dem Arzt auszuhändigen. Dieser fängt dann nicht mit einem weißen Blatt Papier an. Das gibt ihm im Endeffekt mehr Zeit und es stellt sicher, dass die Informationen, die der Patient dem Arzt zukommen lassen möchte, wirklich erfasst werden. Außerdem helfen wir dem Arzt, zielgenauer zur richtigen Diagnose zu kommen, indem wir ihm die wahrscheinlichsten Krankheiten bereits vorab nennen. Wir beobachten schon heute, dass Ärzte dadurch öfter auch seltenere Erkrankungen in Erwägung ziehen, die sie sonst nicht auf dem Radar gehabt hätten.

“Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger usw. sind die wertvollste Ressource in diesem System. Je mehr wir sie entlasten und ihnen Zeit freischaufeln, indem wir sie von Bürokratie befreien und ihnen Aufgaben abnehmen, die sich im Vorfeld regeln lassen, desto besser.” Foto: Ada.

Wo bestehen solche Kooperationen?

In Deutschland unterhalten wir mitunter einige Forschungskooperationen mit Uni-Kliniken. In den USA arbeiten wir zum Beispiel mit einem Gesundheitssystem zusammen: Sutter Health. Darüber hinaus befinden wir uns in Gesprächen mit Krankenversicherern und Regierungen, um deren Systeme zu entlasten und ihnen dabei zu helfen, dass ihre Patienten personalisierte Hilfe erhalten.

Wäre es denkbar, dass die Technologie von Ada auch in Krisenregionen eingesetzt wird, in denen die medizinische Infrastruktur weniger fortgeschritten ist?

Ja, gerade dort! Wenn man den Menschen, die im ländlichen Tansania leben, etwas an die Hand gibt, um an Vorabinformation zu gelangen, welche die möglichen Ursachen der jeweiligen Beschwerden so eingrenzt, dass der Nutzer seinen Gesundheitszustand auf Basis valider medizinischer Fakten besser beurteilen kann, dann wäre das ein enormer Fortschritt. Auf dieser Grundlage kann er beispielsweise dann einschätzen, ob es sich lohnt, die beschwerliche Busfahrt ins Krankenhaus in der nächsten Stadt auf sich zu nehmen. Das ist auch eines der Projekte, das wir mit der Global Health Initiative verfolgen: Wir versuchen, Menschen in der Subsahara-Region einen besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen und sie dabei zu unterstützen, ein bezahlbares Versicherungssystem aufzubauen. Das Potenzial für Verbesserung, die Ada dort leisten kann, ist dort natürlich viel größer als in fortgeschrittenen Gesundheitssystemen.

Foto: Karte des Cholera-Ausbruchs 2008-2009 in Subsahara-Afrika mit den Statistiken vom 12. Februar 2009, von Fowler&fowler via Wikipedia, (CC BY-SA 3.0)

Wie sehen die Pläne von Ada für die Zukunft aus?

Letztendlich werden Ärzte der Technologie vor allem in einem Bereich immer etwas voraushaben: Empathie. Selbst die allerbeste Technik ist immer limitiert, wenn es um das Zwischenmenschliche geht. Gleiches gilt aktuell ebenso noch für die körperliche Untersuchung. Auch im diagnostischen Bereich geht es nicht darum, Ärzte zu ersetzen, sondern möglichst vielen Menschen dabei zu helfen, ihre eigene Gesundheit besser zu verstehen, sodass sie dadurch besser in das System eingebunden werden und einen strukturierten Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten. Und natürlich hilft das auch den Ärzten im Rahmen des diagnostischen Prozesses. Es gibt weltweit mehr als vier Milliarden Menschen, die keinen Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung haben, weil sie es sich nicht leisten können oder weil es schlicht keine gibt. Wenn man diesen Menschen personalisierte Informationen auf höchstem medizinischem Niveau liefern kann, dann hat man schon viel erreicht. Mein persönliches Ziel ist, dass wir in einigen Jahren mit unserer Technologie über einer Milliarde Menschen auf dieser Welt helfen können.

“Auch im diagnostischen Bereich geht es nicht darum, Ärzte zu ersetzen, sondern möglichst vielen Menschen dabei zu helfen, ihre eigene Gesundheit besser zu verstehen.” Foto: Ada.

Wie erwirtschaftet Ada Erlöse? Ist es Teil des Finanzierungsmodells, Kundendaten an Dritte weiterzugeben?

Nein, die Daten gehören dem Nutzer selbst. Sie sind natürlich umfassend geschützt, die rechtlichen Vorgaben sind hier zu Recht sehr streng. Selbstverständlich haben Dritte keinen Zugriff auf die personenbezogenen Daten unserer Nutzer. Gerade in Deutschland spielt das Thema Datenschutz ja eine sehr große Rolle – und im Gesundheitssystem ganz besonders. Wir verdienen unser Geld durch Kooperationen mit Krankenversicherern, Gesundheitssystemen, Regierungen und weiteren Akteuren, indem wir diesen Institutionen die entsprechende Technologie liefern.

Herr Nathrath, vielen Dank für das Gespräch.

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Umgang mit Daten: Demokratisierung vs. Privatsphäre?

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Umgang mit Daten: Demokratisierung vs. Privatsphäre?

Eine Karte für alles: ID, Krankenkassenkarte, Monatskarte für den öffentlichen Nahverkehr und sogar Banking gehen mit der e-ID in Estland. Foto: Annika Haas (EU2017EE) via Wikimedia Commons, (CC BY 2.0); Angaben und Links unter dem Artikel

Intelligente Technologien könnten die Medizin grundlegend demokratisieren und Arzt- oder Krankenhausbesuche in manchen Bereichen sogar überflüssig machen – durch vereinfachten Zugang zu Patientendaten. Aber zu welchem Preis?

Wie mHealth-Anwendungen die Privatsphäre aushöhlen könnten

Durch Covid-19 drohe eine Normalisierung der epidemiologischen Totalüberwachung, warnte der Bestseller-Historiker Yuval Noah Harari in seinem jüngsten Kommentar zur Coronavirus-Pandemie. In China gehört diese Art der Überwachung seit Beginn des Kampfes gegen Covid-19 zum Alltag. Durch das Abfangen von Smartphone-Daten konnten chinesische Behörden in kürzester Zeit nicht nur Träger des Coronavirus identifizieren, sondern auch Menschen, die mit ihnen Kontakt hatten.

Durch Contact Tracing werden Chinesen mit Apps vor infizierten Mitbürgern gewarnt. Sie erhalten Farbcodes, die ihren Gesundheitszustand in Kombination mit den Standortdaten ihres Smartphones anzeigen. Hat man sich in der Nähe einer infizierten Person aufgehalten, wird man zu einer zweiwöchigen Quarantäne gezwungen. Harari fürchtet Zukunftsszenarien orwellscher Qualität: bald schon könnten totalitäre Regime ihre Bürger zwingen, Armbänder zu tragen, die auch Regungen und Gefühle wie Wut oder Langeweile überprüfen. Der Manipulierbarkeit wären keine Grenzen mehr gesetzt.

Durch Covid-19 drohe eine Normalisierung der epidemiologischen Totalüberwachung, warnte der Bestseller-Historiker Yuval Noah Harari. In China ist man nicht mehr weit davon entfernt. Foto: Markus Spiske.

Contact-Tracing-Apps zur Eindämmung des Virus werden wohl bald auch in Deutschland zum Alltag dazugehören. So verlautbarten Kanzleramtsschef Helge Braun und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erst kürzlich in einer gemeinsamen Erklärung, „den Einsatz einer konsequent dezentralen Softwarearchitektur“ für die Anwendung einer Corona-App in Deutschland vorantreiben zu wollen. Vermutlich wird hierfür die vom Fraunhofer-Institut AISEC unterstützte Tracking-App PEPP-PT („Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing“) zum Einsatz kommen. Diese App soll Nutzer zwar nicht persönlich auf dem Smartphone identifizieren, sie soll aber dennoch Auskunft darüber geben, ob man sich in der Nähe von Covid-19-infizierten Menschen befindet. „Der Fokus der Sicherheitsexperten am Fraunhofer AISEC lag bei der Entwicklung des Sicherheitskonzepts auf der Pseudonymisierung der erhobenen Daten“, kommentierte Prof. Dr. Claudia Eckert von der Fraunhofer-Institutsleitung die derzeit weitverbreiteten Sicherheitsbedenken.

mHealth-Apps könnten das Medizinwesen demokratisieren und globalisieren

Die Bedenken verweisen allesamt auf einen entscheidenden Faktor in der Diskussion rund um die Digitalisierung des Medizinsektors: die Patientendaten. Denn so sehr deren Digitalisierung ethische Bedenken auf den Plan ruft, wird sie vielerorts als Voraussetzung einer dringend notwendigen Demokratisierung und Erweiterung des Gesundheitswesens betrachtet.

Dem „Stanford Medicine 2018 Health Trend Report“ zufolge führen mobile Technologien bereits heute zu einer Demokratisierung von Gesundheitseinrichtungen. In der Vergangenheit, heißt es im Bericht, funktionierte die medizinische Versorgung wie ein geschlossenes Ökosystem. Das Krankenhaus war das Zentrum, die Ärzte waren die primären Torwächter medizinischer Informationen. Der Informationsfluss verlief fast ausschließlich in eine Richtung: vom Experten zum Patienten, von oben nach unten.

Durch die Digitalisierung der Patientendaten könnten Informationen dagegen freier fließen und dazu beitragen, medizinische Prozesse weniger hierarchisch und demokratischer zu gestalten. Patienten würden insgesamt eine wichtigere Rolle einnehmen und in einen komplexeren Informationsaustausch eingebunden. Dies würde besonders in ärmeren Ländern und in Regionen, die von einer perfekten medizinischen Infrastruktur oder einem egalitär organisierten Krankenversicherungssystem noch weit entfernt sind, helfen, den Zugang zur Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Schon die Anamnese würde durch mHealth-Apps strukturell vereinfacht.

Durch die Digitalisierung der Patientendaten könnten Informationen dagegen freier fließen und dazu beitragen, medizinische Prozesse weniger hierarchisch und demokratischer zu gestalten. Foto: Owen Beard.

Auf lange Sicht könnte mHealth gar die Grundlage für eine Art globales Gesundheitssystem schaffen, das für weit mehr internationale Zusammenarbeit und Regulation zwischen Regierungen in Gesundheitsfragen sorgen würde. Reichere Nationen müssten mehr dafür tun, die Gesundheitssysteme der ärmsten Länder der Welt zu unterstützen – sei es durch intelligente Technologien, effektivere Vorsorgesysteme, Schuldenerlass oder anderweitige monetäre Unterstützung. Neue medizinische Anwendungen könnten Menschen helfen, bestehendes Unwissen abzubauen und so mehr Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Geräte wie intelligente Uhren oder fernsteuerbare Insulinpumpen mit WLAN-Anschluss könnten ihnen im Alltag helfen, ihre Gesundheit zu überwachen und sie effektiver zu verwalten.

Wie mHealth-Roboter das Gesundheitssystem entlasten könnten

Intelligente Begleiter wie der haustierähnliche MiRo-Gehilfe („Mimetic Robot“) könnten insbesondere älteren, vergesslichen oder dementen Menschen im Alltag helfen, ihr Leben besser zu meistern – sei es innerhalb oder außerhalb einer medizinischen Einrichtung. MiRo-Assistenten können sich durch den Raum bewegen und auf diverse Problemsituationen reagieren. Für allein lebende Personen oder solche, denen der Kontakt zu anderen, etwa aufgrund einer Virusinfektion, zeitweise untersagt ist, könnten sie psychologische Unterstützung leisten, indem sie beispielsweise die Lieblingsmusik des Patienten abspielen oder ein einfaches Gespräch mit ihm führen. Da der Roboter konstant lernt, könnte er derartige Aufgaben mit der Zeit immer besser meistern.

Im Rahmen des Echtzeitabgleichs mit der elektronischen Patientenakte könnten die Roboter auch so programmiert werden, dass sie Patienten daran erinnern, lebenswichtige Medikamente einzunehmen oder ihnen die korrekte Medikamentendosis und -auswahl vorzusortieren. Sollten alltagsrelevante Gegenstände wie eine Brille oder der Schlüssel des Patienten verloren gehen, könnten die smarten Begleiter diese wiederfinden. Und in medizinischen Notfällen wäre es ihnen möglich, direkt den Krankenwagen zu rufen. Den menschlichen Empathiefaktor einer Pflegekraft oder eines Familienmitglieds würden sie zwar wohl nicht ersetzen; auf längere Sicht könnten sie das Gesundheitssystem jedoch extrem entlasten – insbesondere in Extremsituationen wie einer Pandemie.

Wer bestimmt in der mHealth-Welt, was gesund ist – und was nicht?

Letztlich stellt sich allerdings auch die Frage, ob mHealth-Apps – vergleichbar mit sozialen Medien, die in den letzten zwei Jahrzehnten unser Verständnis von Kommunikation, Freundschaften, Dating usw. gravierend verändert haben – eine grundlegend neues Verständnis von Gesundheit etablieren würden. Die daran anschließende Frage lautet natürlich, wer dieses Verständnis prägt und wie abhängig es von ökonomischen Entscheidungen ist. Wie verstehen wir beispielsweise mentale Gesundheit und wie reagieren wir mit intelligenten Systemen auf psychische Erkrankungen?

Wer entscheidet, was gesund ist, und was nicht? Foto: Macau Photo Agency.

Würde ein Psychotherapiepatient von einem KI-geleiteten System etwa als mehr oder als weniger gesund eingestuft werden als der vorgestellte „Normalpatient“, also jemand, der laut Patientenakte nicht psychisch labil ist, zumal er keine entsprechenden Auffälligkeiten aufweist? Immerhin könnte man argumentieren, dass eine Person nach Jahren therapeutischer Behandlung – trotz vorhergehender Auffälligkeiten – psychisch gefestigter ist als ein Mensch, der seine Psyche niemals infrage stellen musste.

Werden intelligente Systeme mit derart komplexen, im Bereich der Graustufen liegenden Fragen umgehen können? Oder wird ein auf „Gesundheit“ programmierter Algorithmus lediglich versuchen, die Gesundheitsquote seiner „User“ zu maximieren, wie es etwa YouTube mit der Konsum- oder Twitter und Facebook mit der Aufmerksamkeitsquote machen? Schon diese Fragen zeigen, dass es entscheidend ist, einen vorsichtigen Umgang mit intelligenten Anwendungen im Gesundheitssektor anzumahnen. Nicht-medizinischen Behörden wie der Polizei oder auch dem Arbeitgeber den Zugriff auf die Patientendaten zu gewähren, wäre fatal.

Angaben und Links zum Headerfoto: Annika Haas (EU2017EE) via Wikimedia Commons, (CC BY 2.0).

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Die holistische Versorgung aus dem Care-Hub-Zentrum

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Die holistische Versorgung aus dem Care-Hub-Zentrum

Wie sieht wohl die Krankenversorgung in den Krankenhäusern der Zukunft aus? Foto: Piqsels.

Was, wenn Ärzte, anstatt lediglich auf Krankheiten zu reagieren, mobile Unterstützung für alle Lebensbereiche – wie Schlaf, Diät, Sex und Sport – geben würden? Digital gesteuerte „Care Hubs“ könnten wie Flugkontrollzentren fungieren, die den Gesundheitszustand der Bürger aus der Ferne überwachen.

Der Großteil der Gesundheitssysteme der Welt funktioniert nicht wirklich präventiv oder vorsorgend, sondern als Krankenfürsorge. Die Einrichtungen kümmern sich in den meisten Fällen erst dann um Patienten, wenn diese bereits bestimmte Symptome aufweisen. In den letzten Jahrzehnten gab es zwar Fortschritte in der medizinischen Diagnose und Behandlung, an der Struktur hat sich allerdings wenig geändert. Krankenhäuser sind Gebäude, in denen akut kranke Menschen behandelt werden. Wer sich nicht wohlfühlt, kann seinen Hausarzt aufsuchen, Tests durchführen und im Zweifel eine Behandlung erhalten. Dies ist jedoch ein langwieriger – und vor allem reaktiver – Prozess.

mHealth-Apps könnten den Perspektivenwechsel fördern

Um diese Struktur zu ändern, müssten wir damit beginnen, das Gesundheitswesen mehr aus der Perspektive der Patienten zu betrachten anstatt aus der des Arztes. Wie können sie die Faktoren, die eine (potenzielle) Erkrankung beeinflussen, besser verstehen und eine aktivere Rolle bei ihrer Abwendung spielen? Diverse mHealth-Anwendungen könnten ihre User darauf trimmen, eine Art allgegenwärtige, gesundheitliche Selbstsorge zu entwickeln – vergleichbar mit den WHO-Richtlinien zum regelmäßigen Händewaschen und temporären Social Distancing in den Hochzeiten der Corona-Krise. Diese wären Bausteine einer Entwicklung, die das medizinische Denken von Grund auf erweitert.

mHealth-Geräte könnten unsere Herzfrequenz, unseren Blutdruck, unsere Atmung oder das Aktivitätsniveau messen und ungesunde Entwicklungen bereits dort sichtbar machen, wo sie sich erst anbahnen, indem sie – wie eine unsichtbare Hand der Medizin – diverse Warnmeldungen absetzen. Vielleicht auch die Geräte im Fitness-Studio? Foto: via pxfuel gemeinfrei. (Bild mit photomosh bearbeitet)

Ganz konkret würden die Menschen anfangen, sich auch außerhalb des Krankenhauses und in einem breiteren Umfang für ihre Gesundheit zu engagieren, indem sie etwa mobile Beratung in Lebensbereichen wie Schlaf, Essen, Trinken, Sexualität und Sport in Anspruch nehmen sowie Unterstützung zur richtigen Einnahme von Medikamenten erhalten. Verschiedene mHealth-Geräte könnten unsere Herzfrequenz, unseren Blutdruck, unsere Atmung oder das Aktivitätsniveau messen und ungesunde Entwicklungen bereits dort sichtbar machen, wo sie sich erst anbahnen, indem sie – wie eine unsichtbare Hand der Medizin – diverse Warnmeldungen absetzen. Das Ziel wäre es, dass Menschen sich proaktiv gesund halten, anstatt nur dann zu reagieren, wenn es bereits zu spät ist.

Care-Hub-Zentren als interaktive Frühwarnsysteme

Diese Gesundheitsdaten könnten von einem Gesundheitsarmband (vergleichbar mit einem Fitnessarmband), von einem unter die Haut implantierten Chip oder von einer Smartphone-Anwendung aufgezeichnet und von diversen Algorithmen verarbeitet werden, die in regelmäßigen Abständen darstellen, wie sich die Gesundheit des oder der Einzelnen entwickelt und wann eine Intervention erforderlich wäre. So ließe sich etwa abschätzen, ob jemand ein erhöhtes Herzinfarktrisiko hat oder sich mehr bewegen sollte.

Es wäre zudem vorstellbar, dass ein Pflegeteam diese Daten aus der Ferne überwacht. Sogenannte Care-Hubs könnten wie Flugkontrollzentren fungieren, in denen ein medizinisches Team diverse Auffälligkeiten registriert. Auf der Grundlage dieser Daten ließe sich letztlich der Gesundheitszustand eines ganzen Haushalts oder gar einer gesamten Stadt ermitteln. Von den Hubs aus könnte das medizinische Personal Videokonsultationen mit Patienten führen und im Zweifelsfall Arztbesuche vereinbaren, bevor erste Symptome auftreten.

Die Zukunft der Medizin: Bluetooth-Untersuchung und Zoom-Diagnose

Werden KI und Robotic in Zukunft die Patientenbetreuung erleichtern und die Ärzte entlasten, indem sie persönliche Arztbesuche unnötig machen? Foto: Via Piqsels gemeinfrei (Bild mit photomosh bearbeitet).

Hausärzte könnten ihre Patienten Ultraschallgeräte benutzen lassen, die entsprechende Sonogramme via Bluetooth- oder Cloudtechnologie direkt und in Echtzeit zum Arzt zurücktransportieren, sodass eine Herzvorsorgeuntersuchung aus der Ferne und ohne physischen Kontakt möglich wäre. Falls Unregelmäßigkeiten festgestellt werden sollten, könnte der Hausarzt dies einem Kardiologen mitteilen, der den Patienten diagnostiziert, indem er sich einfach in die Übertragung einklinkt. In all den Versorgungsbereichen, in denen nicht unbedingt „Hand angelegt“ werden muss, könnte Medizin stückweise mehr wie eine Zoom-Konferenz funktionieren. Dies würde Krankenhäuser langfristig entlasten – und in einer Situation wie der Covid-19-Pandemie vermutlich Menschenleben retten.

Durch ein breiteres Versorgungsnetzwerk an Ärzten könnten sich mehrere Experten mit einem Fall befassen, sodass auch die Fehlerquote verringert und frühzeitige Diagnosen möglich wären. Eventuell würden wir letztlich sogar unser Vokabular und unseren Sprachschatz erweitern, sodass wir die nötige Empathie und das Mitgefühl, das Ärzte Patienten vermitteln können, auch ohne physischen Kontakt spürbar machen können.

Ein neuer hippokratischer Eid: Wie sich Datenmissbrauch verhindern ließe

Das Modell des Care-Hub-Zentrums und der mobilen Behandlung aus der Ferne würde natürlich ganz neue Datenschutzfragen aufwerfen. Privatsphäre wäre kaum mehr verhandelbar, da dieses Modell eine Art medizinische Totalüberwachung quasi voraussetzt. Welche Daten lassen sich noch schützen, wenn ein Team von KI-Medizin-Bots Einsicht in Schlaf-, Diät-, Sex- und Bewegungsgewohnheiten seiner Patienten hat?

Und wer bestimmt – marktunabhängig – wie viel oder wenig Aktivität oder Verzicht in den genannten Bereichen tatsächlich „gesund“ ist? Wenn mHealth-unterstützte Medizin in der Zukunft tatsächlich zu einem neuen Standard würde, müsste sicherlich auch darüber nachgedacht werden, den hippokratischen Eid der Medizin zu erweitern. Die darin enthaltene Schweigepflichtklausel könnte beispielsweise durch eine Datenschutzklausel für medizinisches Personal und auch für KIs ergänzt werden. Um Datenmissbrauch effektiv zu verhindern, müssten Ethikräte, Mediziner und Technologieentwickler sich jedoch kontinuierlich gegenseitig auf den neuesten Stand bringen.

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