Lange vor Tarifverträgen, Kündigungsschutz und Arbeitsregulierungen lebte unsere Urgesellschaft flexibel, aktiv und füreinander, um sich und die anderen Mitglieder der Community abzusichern. Der Beginn des Wirtschaftens.
Geben und Nehmen bekommt einen anderen Charakter, wenn man in der Zeit rund 12 000 Jahre zurückgeht, als die Menschen sich ihr Überleben durch Sammeln und Jagen sicherten und damit die älteste Ökonomieform schufen.. Für manche war Arbeit ein regelrechter Kampf, für andere ein Geschick, doch für alle ein Miteinander. Reziprozität ist das Kernelement, das im Gegensatz zu modernen Entwicklungen steht, sich aber in der fernen Zukunft wieder durchsetzen könnte.
Überleben, aber bitte nur im Miteinander
Ausgrabungen und Höhlenzeichnungen lassen nur erahnen, wie die menschliche Urgesellschaft gelebt und gearbeitet haben muss. Während sich Jäger*innen und Sammler*innen (gegendert übrigens, weil man vor kurzem festgestellt hat, dass sowohl Männer als auch Frauen vermutlich beides ausgeübt haben) in verschiedenen Teilen der Welt in ihren Techniken, Aufgabenverteilungen rund um ihre Nahrungsbeschaffung und Lebensweisen unterschieden, verband sie ein Gefühl für die Gemeinschaft. Sie lebten üblicherweise in kleinen Communities, bestehend aus ein paar dutzend Mitgliedern, die sich quasi gegenseitig voneinander abhängig machten. Denn hier überlebte man nur im Kollektiv und in enger Kooperation. Man verstand die Effektivität dahinter, auf die unterschiedlichen Fähigkeiten der anderen zu bauen und die eigene Lebensqualität dadurch zu steigern.
Es war ein Leben im Sinne der Reziprozität, bei der es darum geht, etwas zu geben und im Gegenzug etwas zu bekommen. Mit der Konsequenz, dass sowohl das Eigen- als auch das Gemeinwohl gestärkt werden. Heute würde man dieses Prinzip vielleicht als Absicherung ohne Vertrag bezeichnen. Denn diese Art der Zusammenarbeit, das Vertrauen in das Gegenüber und der Wille, immer für den Gruppenverband bereitzustehen, war die Lebensversicherung unserer Vorfahren. Eine, die zum einen Flexibilität voraussetzte und zum anderen das höchste Maß an Sicherheit bot. Diese beiden Faktoren waren damals keine gegenläufigen Tendenzen, nichts, was das andere automatisch ausschloss, sondern standen miteinander in Wechselwirkung.
Anpassungsfähigkeit in unsicheren Zeiten
Um sich das besser vorstellen zu können, lohnt sich ein Blick in den Alltag der damaligen Jäger*innen und Sammler*innen, welchen es ja eigentlich so nicht gab, weil jeder Tag anders sein konnte und weil man sich immer wieder den Gegebenheiten anpassen musste. Die Communities legten oft lange Strecken zurück und mussten fähig sein, sich je nach Lage neu zu organisieren, also flexibel zu sein. Es gab keine Garantien – man sammelte und erlegte das, was sich unterwegs ergab. Hinzu kam, dass die Menschen der Urgesellschaft auch immer wieder den Launen der Natur trotzen mussten. Denn mit den klimatischen Bedingungen, die Flora und Fauna beeinflussten, änderten sich die Möglichkeiten der Nahrungsbeschaffung und damit auch die Lebensqualität.
Flexibilität war damals dementsprechend nicht unbedingt ein Verlangen, wie sie es heute für viele Verfechter*innen der New-Work-Generation ist. Sie war eher eine Voraussetzung dafür, sicher zu leben. Das bedeutete eben auch, abhängig von Umständen einspringen zu können, wenn man an anderer Stelle gebraucht wurde. Die Aufgabenteilung machte sich auch schon damals bezahlt. Manche waren zum Beispiel für das Ausgraben von Wurzeln und Knollen, das Sammeln von Früchten oder Kräutern verantwortlich, andere spezialisierten sich auf das Jagen oder Erlegen von Tieren, wieder andere kümmerten sich um die Verarbeitung der Nahrung und den Schutz der Säuglinge und Kinder. Die Nahrung wurde geteilt. Eben eine*r für alle, alle für eine*n.
Reziprozität am Ende? Umschwung mit der neolithischen Revolution
Die reziproke Arbeit der Jäger*innen und Sammler*innen beruhte auf ungeschriebenen Regeln, an die man sich allein schon aufgrund des Überlebensinstinkts hielt. Andererseits entwickelten sich dadurch soziale Dynamiken, in denen unsere Vorfahren durch das Füreinander ihre Beständigkeit auch ohne Sesshaftigkeit finden konnten. Es ist besonders interessant, diese Verhältnisse in Relation zu späteren Gesellschaften und Zeiten zu setzen. Denn in den folgenden Jahrtausenden sollten Flexibilität und Sicherheit wieder ganz neue Bedeutungen bekommen, sich gegenseitig ausspielen und voneinander distanzieren, um irgendwann doch wieder zueinander zu finden und das Potenzial in der Vereinigung auszuschöpfen.
Der wohl größte damit verbundene Umschwung ist auf die neolithische Revolution zurückzuführen, die Jäger*innen und Sammler*innen zu sesshaften Bauern machte. Sie schufen durch den Ackerbau und die Viehzucht die Quelle des modernen Wirtschaftens. Plötzlich ging es um Ressourcen, um Vorräte, irgendwann auch um Tausch, Nachfrage und Angebot. Die steigende Produktivität hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Menschheit, ließ die einzelnen Communities und somit die gesamte Bevölkerung wachsen.
Die Gesellschaft veränderte sich, Kulturen entwickelten sich weiter, auch weil im Hinblick auf Produktionsmittel nun persönliches Eigentum eine Rolle spielte. Die Reziprozität rückte dadurch erst einmal in den Schatten, jedenfalls das bisherige Verständnis davon. Insgesamt bedeutete das neue Leben Regelungsbedarf zum Schutz der Sicherheit und somit eine Einschränkung der Flexibilität.