Durchschnittliche Lebenserwartung im Jahre 1500: 27 (Europa)
Im sagenhaften Nebel mittelalterlicher Märchen und Legenden sprudelte auch der Jungbrunnen. Er war aber, ganz im Gegensatz zu vielen Schauergeschichten, phantastischer Hoffnungsträger eines düsteren Jahrtausends voller Entbehrungen, vergleichbar mit der Suche nach dem Stein der Weisen, dem heiligen Gral und Fabelwesen wie Einhörnern. Diese Erzählungen erlauben einen Blick in die mittelalterliche Seele, deren Alltag nicht viel Anlass zur Hoffnung gab: Im europäischen Mittelalter lag die mittlere Lebenserwartung bei nur 27 Jahren. Sogar diejenigen, die das Kleinkindalter überlebten, wurden in der Regel nicht älter als 40.
Verantwortlich für den frühen Tod vieler waren außerordentlich schlechte Lebensbedingungen: eine mangelhafte Ernährung, katastrophale hygienische Bedingungen, eine fehlende institutionalisierte Gesundheitsversorgung. Dabei bargen die menschlichen Gene schon damals das Potenzial zu einem langen, gesunden Leben. Mit dem nötigen Kleingeld konnte man dieses Potenzial ausschöpfen. Michelangelo (*1475) wurde zum Beispiel 88 Jahre alt, obwohl die Lebensbedingungen der einfachen Bürger sich während seiner Lebenszeit kaum verbesserten.
Die Legende des Jungbrunnens: Sehnsucht nach Unsterblichkeit
Im Normalfall war mittelalterliches Leben also kurz und bitter – und trotzdem fanden Menschen Gefallen beim Gedanken an ewiges Leben. Das zeigt sich an der Legende des Jungbrunnens. Sie besagt, dass jeder, der von besagtem Brunnen trinkt oder gar in ihm badet, augenblicklich wieder in der Blüte seines Lebens steht.
Insbesondere die zeitliche und räumliche Verbreitung der Legende ist erstaunlich. Zuverlässig taucht der Mythos in verschiedenen Kulturen immer wieder auf. Die ersten Andeutungen finden sich bereits in den Schriften des Herodotus (5. Jahrhundert v. Chr.), und ebenso im Alexanderroman (3. Jahrhundert v. Chr.) wird von ihm berichtet. Das Mittelalter dominierte insbesondere die Interpretation des Priesterkönig Johannes. Doch auch die Menschen der beginnenden – und vergleichsweise rational geprägten – Neuzeit erlebten eine Renaissance des Jungbrunnens: Als die kolonialen Eroberer im frühen 16. Jahrhundert erwartungsvoll die Meere durchquerten, sprach man in Europa bald schon wieder von einem Wasser mit zauberhaft regenerativen Kräften. Denn die Eingeborenen der Karibikinseln hatten erstaunlicherweise eine ganz ähnliche Sage eines jugend-spendenden Brunnens.
An Sogkraft scheint der Mythos auch gut 500 Jahre später nicht eingebüßt zu haben: Der Jungbrunnen ist immer noch ein beliebtes Motiv der Populärkultur und kommt etwa in Hollywoodstreifen wie Fluch der Karibik oder Star Trek vor.
Ewiges Leben? Ewige Jugend!
Was aber ist das Besondere dieser Legende? Wieso erfreute sie sich solch großer Beliebtheit, selbst in einem so dunklen Kapitel der Menschheitsgeschichte, wie dem Mittelalter? Wenn das Leben nicht lebenswert erschien, warum sollte man es verlängern wollen?
Die genaue Ausgestaltung der Legende liefert Hinweise: Nachdem ein Greis aus dem Jungbrunnen stieg und an sich herunterblickte, erschrak er. Seine Falten, Gebrechen, sein Buckel, die grauen Haaren – sie waren verschwunden. Stattdessen war die Zeit wie zurückgedreht, und er befand sich wieder in fast knabenhafter Jugend. Und es war nicht bloß ein vorübergehender Zauber, er sollte eine neue junge Frau haben und viele Kinder.
Dieses entscheidende Element der Legende zeigt, dass ewiges Leben allein kaum verlockend schien. Dafür waren die Lasten und Schmerzen des Alters viel zu präsent. Wonach sich die Menschen wirklich sehnten, war die ewige Jugend.
Expedition in mythische Länder
Und diese Sehnsucht war groß. So groß, dass einige um die ganze Welt reisten, in der Hoffnung, den Schlüssel ewiger Jugend zu finden. Zeit schien dabei keine Rolle zu spielen. Denn auch wer jahrzehntelang über Kontinente irrte, konnte sich doch mit der Aussicht ewiger Jugend vertrösten, welche den hohen Zeitaufwand nichtig machen würde.
Anfang des 16. Jahrhunderts soll sich etwa ein kolonialer Eroberer, Juan Ponce de Léon, auf die Suche begeben haben. Er folgte den Sagen der karibischen Eingeborenen, der Brunnen ewiger Jugend sei im mythischen Land Bimini (den heutigen Bahamas) zu finden. Léon reiste ins heutige Florida, um von dort aus die Inselgruppe nach verjüngenden Wasserstellen abzusuchen. Im Nachhinein bestritt er, dem Mythos je gefolgt zu sein.
Seele als Versprechen des ewigen Lebens
Er negierte seine Expedition wohl, da er sich des Spottes seiner Mitmenschen in Spanien sicher sein konnte. Dort hielten die meisten die Legende des Jungbrunnens für eine Fantasterei. Ihr Umgang mit dem unumgänglichen Älterwerden – der schrittweisen Annäherung zum Tod – war der Glaube. Im Christentum birgt die Seele das Versprechen ewigen Lebens, im Guten wie im Schlechten: als ewige Bestrafung in der Hölle oder herrliche Erlösung im Himmel.
Diese Hoffnung auf ein Nachleben war aber nicht nur dem Christentum vorbehalten. In den meisten Religionen ist der körperliche Tod nicht der tatsächliche. Alle Lebewesen sind als göttliche Geschöpfe Teil von ihm (oder ihr) – und damit unsterblich. Doch mit der beginnenden Aufklärung im späten 17. Jahrhundert brachen zwei Entwicklungen Bahn: Die Wirkmacht und Deutungshoheit der Kirche schwanden (so auch ihre Botschaft des ewigen Seelenheils) und die empirische Wissenschaft feierte ihren Siegeszug. Die Menschen suchten fortan neue Wege, das Leben zu verlängern oder sogar den Tod zu überlisten. Statt den Jungbrunnen zu suchen, gingen sie dazu über, ihren eigenen zu schaffen.