Vor rund 150 Jahren machte sich der US-Amerikaner Henry David Thoreau intensive Gedanken zu Recht und seiner moralischen Legitimierung. Der Philosoph war sich sicher: Dort, wo die beiden auseinanderdriften, müssen wir uns dem Staat entgegenstellen.
Auf dem Weg zum Schuster wird Henry David Thoreau an einem warmen Sommertag 1846 von einem Steuereintreiber verhaftet. Kaum jemand kennt zu dieser Zeit den US-amerikanischen Philosophen und Schriftsteller, dessen Buch Walden ihn nach seinem Tod weltberühmt machen sollte. Der Steuereintreiber sieht in ihm lediglich einen Mann, der sich weigert, seine Schuld zu begleichen.
Thoreau arbeitet im US-Bundesstaat Massachusetts als Lehrer, Schriftsteller und Bleistiftfabrikant – am nötigen Kleingeld mangelt es ihm nicht. Dennoch hat er sich sechs Jahre zuvor entschieden, keine Steuern mehr zu verrichten. Denn Thoreau ist unzufrieden. Unzufrieden mit einer Regierung, die trotz wiederkehrender Proteste an der Sklaverei festhält. Unzufrieden mit einem Präsidenten, der erst wenige Monate zuvor in Mexiko einmarschiert ist, um das Territorium der Vereinigten Staaten auszudehnen.
So lässt sich Thoreau bereitwillig ins Gefängnis der kleinen Stadt Concord mitnehmen. Lieber ein paar Nächte hinter Gittern, als mit einer Steuerzahlung ein System unterstützen, das nicht mit seinen Moralvorstellungen übereinstimmt. Doch während Thoreau in seiner Zelle über das Spannungsfeld zwischen Recht und Moral grübelt, begleicht eine andere Person seine Schuld. Die Steuerzahlung geschieht gegen seinen Willen und bis heute ist nicht endgültig geklärt, wer Thoreau mit den nötigen Scheinen die Freiheit schenkte. Klar ist: Es blieb bei einer einzigen Nacht hinter Gittern. Eine Nacht, die Thoreau nachhaltig inspirieren sollte.
Wer sich unmoralischen Regierungen nicht widersetzt, geht mit ihnen d‘accord
Denn sein Aufenthalt im Gefängnis und dessen Ursache verdeutlichen dem Philosophen eine Wahrheit, die er schon lange in sich trägt: Es besteht ein gravierender Unterschied zwischen dem geltenden Gesetz und seiner eigenen Vorstellung von Moral. Diese Erkenntnis beschäftigt ihn so sehr, dass er bald Vorträge darüber hält und seine Gedanken 1849 schließlich auch in einem Text festhält. Der entstehende Essay ist neben Walden, seinen Memoiren zum Aussteigerleben im Wald, noch heute eines seiner erfolgreichsten und bekanntesten Werke. Thoreau nutzt seine Denkschrift zunächst, um Regierungen im Allgemeinen und die US-amerikanische Regierung im Speziellen zu kritisieren.
Er eröffnet ein Zukunftsszenario, in dem Regierungen aufhören zu regieren, sobald die Menschheit dazu bereit ist. Eine solch anarchistische Gesellschaft führt Thoreau als Ideal an. Der US-amerikanische Staat regiere dagegen zu viel und missbrauche seine Aufgabe, das Volk und dessen Willen zu repräsentieren. Auch das Konzept der Demokratie gerät im Rahmen des Essays in Thoreaus Schussfeld. Denn nur, weil eine Regierung von einer Mehrheit gewollt sei, befinde sich diese nicht automatisch im Recht. Die von ihr erlassenen Gesetze könnten daher keinerlei Anspruch auf die moralische Vertretbarkeit erheben.
Wenn also die Regierung nicht mehr den Willen des Volkes vertritt und deren positives, also von Regierenden gesetztes, Recht zudem von den eigenen Moralvorstellungen abweiche, sei es die Pflichteines jeden, sich gegen den Staat und die Gesetze aufzulehnen. „Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit“, schreibt Thoreau. Der Philosoph appelliert an das moralische Gewissen seiner Mitmenschen und fordert diese regelrecht dazu auf, das Gesetz, im Falle einer Diskrepanz zur persönlichen Moral, zu brechen – unabhängig von den Folgen. Denn: „Es kostet mich in jeder Weise weniger, die Strafe des Staates für Ungehorsam auf mich zu nehmen, als es mich kosten würde, zu gehorchen“, so der Philosoph.
Thoreaus Verleger gibt dem Phänomen einen Namen
Den Begriff des zivilen Ungehorsams sucht man in Thoreaus Essay vergeblich. Selbst das Wort Ungehorsam ist sparsam dosiert. Dennoch gilt der Philosoph als derjenige, der den Begriff prägte, denn sein Verleger gab dem Stück bei seiner Veröffentlichung den Titel „Civil Disobedience“, zu Deutsch: Ziviler Ungehorsam. Gepaart mit diesem Titel präsentiert Thoreau eine Definition, die noch heute allgemeingültig ist: Bürger:innen widersetzen sich dem Staat, weil sie mit dessen Vorgehensweise unzufrieden sind und ein Zeichen setzen wollen. Weil sie nicht zu Unrecht beitragen wollen, was sie, wie Thoreau feststellt, andernfalls tun würden, indem sie beispielsweise Steuern zahlen oder im Krieg kämpfen. Diese beiden Formen des zivilen Ungehorsams benennt der Autor ganz konkret: Steuern oder Militärdienst verweigern. Beide bezeichnen einen individuellen Akt, der dem Staat den eigenen Missmut deutlich mitteilt.
Seit Thoreau die passenden Worte, und sein Verleger den einschlägigen Titel, fand, inspirieren seine Gedanken Aufstände im Kleinen und Großen. Immer wieder haben sich Menschen in der Vergangenheit und Gegenwart im Angesicht von Ungerechtigkeiten gewaltfrei gewehrt. Indem sie die Normen und Gesetze von Regierungen und mächtigen Institutionen ignorierten oder sich diesen widersetzten und so unzählige Menschenleben retteten und zu gesellschaftlichem Wandel beitrugen. So schaffen sie es mitunter auch, das Recht und die Moral schrittweise miteinander zu versöhnen.
Thoreau gilt noch heute als bedeutender Vorreiter dieses Gedankens. Auch er schöpfte im Rahmen seiner Steuerverweigerung von einem Verlangen, das wohl so alt ist wie die Menschheit selbst: Ungerechtigkeiten zu beseitigen und die eigenen Moralvorstellungen öffentlichkeitswirksam zu vertreten. Erst viel später stellt sich die Frage, ob nicht gewisse individuelle Moralvorstellungen so sehr von der Idee der Moral abweichen, dass sie den zivilen Ungehorsam als solchen disqualifizieren.