Klare Rollenverteilungen in Europa
In Europa werden die Rollen spätestens seit dem 17. Jahrhundert klar verteilt: Wer biologisch als Mann zur Welt kommt, erhält eine „männliche“ Erziehung und Ausbildung – eine männliche Identität –, Frauen dementsprechend eine weibliche Identität. Das biologische Geschlecht bestimmt den Lebensweg und die „in der Gesellschaft zu spielende Rolle“ und kann nur in zwei Richtungen gehen. Oder etwa doch nicht?
Zwar gab es auch hierzulande schon immer Menschen, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren konnten, doch galten sie im europäischen Kulturkreis lange als psychisch krank und waren daher oftmals ein Fall für die Besserungsanstalt – zusammen mit Homosexuellen und Menschen mit geistiger Behinderung. Was Europa zum Ende des 19. Jahrhunderts noch fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, was bei Völkern anderer Kontinente und Kulturkreise schon seit Jahrhunderten – wenn nicht gar seit Jahrtausenden – seinen Platz in der Gesellschaft hat: ein temporäres oder dauerhaftes „Dazwischen” – ein drittes (oder viertes oder fünftes) Geschlecht.
Zwischen den Geschlechtern
Besonders bei den indigenen Völkern Nordamerikas gibt es Geschlechterrollen, die keine eindeutige Zuweisung einer einzigen Geschlechteridentität zulassen – und bei denen das auch nicht notwendig erscheint. Der Stamm der nordamerikanischen Navajos kennt ganze fünf Geschlechter: das Männliche, das Weibliche, den Hermaphroditen (Urform des Nádleehé, d. h. zweigeschlechtlich), männliche Nádleehé und weibliche Nádleehé. Nádleehé ist in der Sprache der Navajo jemand, der sich in einem ständigen Prozess des Wandels befindet.
Diese Vermischung beider Geschlechteridentitäten in einer Person beschreibt die gesellschaftliche Erscheinung der Two-Spirits. So zum Beispiel auch beim Stamm der Zuni seit 1600 bekannt. Die als zwischengeschlechtlich auftretenden Stammesmitglieder haben ein klar definiertes biologisches Geschlecht, bewegen sich aber sowohl kleidungstechnisch als auch in ihren Tätigkeiten zu großen Teilen in eher gegensätzlich konnotierten Geschlechterrollen.
Das hohe Ansehen der Two-Spirits in der Gesellschaft der Zuni wird mit einem von ihnen verehrten Geisteswesen in Verbindung gebracht, das als Teil einer vergangenen Zeit gilt, in der die Menschen noch beide Geschlechter in sich trugen und daher ein vollkommenes Ganzes sein konnten.
Die „Prinzessin” We’hwa
Die wohl berühmteste zwischengeschlechtliche Figur der Zuni heißt We’wha und lebte zur Zeit der Kolonialisierung von New Mexico. We’wha ist ein biologisch männlicher Zuni, der jedoch zeitlebens zwischen beiden Geschlechterrollen mäanderte: We’wha kleidete sich wie eine Frau und übte weibliche Tätigkeiten aus. Gleichzeitig war We‘wha aber auch Teil eines religiösen Männerbundes und kämpfte im Falle des Krieges.
Eine befreundete Ethnologin, Matilda Coxe Stephenson, beherbergte We’wha bei einem Besuch in Washington D.C., bei dem er/sie sogar dem Präsidenten Grover Cleveland im Weißen Haus vorgestellt wurde – als „Indian Princess”. Zu We’whas Ehren, der/die außerhalb des Stammes immer als „klassische” Frau wahrgenommen wurde, hielt man Empfänge ab. Als die Zuni mit der Regierung jedoch in Konflikt geraten, wird er/sie festgenommen, der Hexerei beschuldigt und muss ins Gefängnis.
Was sich bei uns in Europa erst seit Ende des 20. Jahrhunderts zu etablieren scheint, war demnach schon lange bei anderen Völkern bekannt und geachtet. Und auch wenn die Two-Spirits mit der Besiedlung Amerikas und der Unterdrückung der indigenen Völker verschwinden, zeigen sie als eines von vielen Beispielen weltweit, dass multiple Geschlechteridentitäten keine neumodische Erfindung darstellen wie Genderkritiker behaupten. Sie sind ein relevanter Teil der Geschichte der Menschheit und somit ein wichtiges Element für die heutige Diskussion um Gleichberechtigung für Menschen aller Genderidentitäten.