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Kompendium: Multiple Gender

Die ausgewogene Repräsentation aller Geschlechter und Identitäten in Politik und Wirtschaft ist noch nicht erreicht. Ein Gedankenexperiment.

Kompendium: Multiple Gender

Geschlecht ist längst kein starrer Begriff mehr, sondern kann vom Individuum selbst ausgelegt werden. Die gesetzliche Basis dafür ist bereits vorhanden, aber wie genau kann diese neu gewonnene Multiple-Gender-Freiheit aussehen? Eine Prognose.

Kompendium

Lange Zeit nachdem die ersten Gender-Aktivistinnen und -aktivisten auf die Straße gegangen sind, ermöglicht es die moderne, digitale Welt nun, außerhalb des biologischen Geschlechts auch neue Geschlechtsidentitäten anzunehmen und auszufüllen. Geht die Tendenz hin zu einer geschlechtermultiplen Zukunft? Und was bedeutet dies für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft?

Kompendium: Multiple Gender

Während in Europa um 1900 „männlich” und „weiblich” als einzig mögliche Geschlechter gelten, kennen die indigenen Völker Nordamerikas schon seit Jahrhunderten die „Zwischenwesen”.

Kompendium: Multiple Gender

Parallel zu zahlreichen Protestwellen in den USA und Europa organisieren sich Ende der 1970er Jahre auch die LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten stärker, lauter und stolzer als jemals zuvor – ein wichtiger Schritt, um aus der starken sozialen Ausgrenzung auszubrechen.

Kompendium: Multiple Gender

Der Regenbogen ist das Trend-Accessoire der Neuzeit. Facebook bietet für das eigene Geschlecht inzwischen 72 Möglichkeiten zur Auswahl. Toleranz und Diversität werden genauso wie viele schillernde Vorbilder zelebriert. Sind wir schon angekommen?

Kompendium: Multiple Gender

Zwischen normativem Geschlechtermodell und Two-Spirits People

Kompendium: Multiple Gender

Zwischen normativem Geschlechtermodell und Two-Spirits People

"Zeremonieller Tanz zu Ehren des Berdache (zweigeschlechtlicher Mensch)". Zeichnung von George Catlin.

Während in Europa um 1900 „männlich” und „weiblich” als einzig mögliche Geschlechter gelten, kennen die indigenen Völker Nordamerikas schon seit Jahrhunderten gesellschaftlich angesehene „Zwischenwesen”.

Klare Rollenverteilungen in Europa

In Europa werden die Rollen spätestens seit dem 17. Jahrhundert klar verteilt: Wer biologisch als Mann zur Welt kommt, erhält eine „männliche“ Erziehung und Ausbildung – eine männliche Identität –, Frauen dementsprechend eine weibliche Identität. Das biologische Geschlecht bestimmt den Lebensweg und die „in der Gesellschaft zu spielende Rolle“ und kann nur in zwei Richtungen gehen. Oder etwa doch nicht?

Zwar gab es auch hierzulande schon immer Menschen, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren konnten, doch galten sie im europäischen Kulturkreis lange als psychisch krank und waren daher oftmals ein Fall für die Besserungsanstalt – zusammen mit Homosexuellen und Menschen mit geistiger Behinderung. Was Europa zum Ende des 19. Jahrhunderts noch fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, was bei Völkern anderer Kontinente und Kulturkreise schon seit Jahrhunderten – wenn nicht gar seit Jahrtausenden – seinen Platz in der Gesellschaft hat: ein temporäres oder dauerhaftes „Dazwischen” – ein drittes (oder viertes oder fünftes) Geschlecht.

Auch wenn Menschen sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren konnten, hatten sie in Europa lange nur Auswahl zwischen Frau und Mann. By LSE Library – A couple holding hands.

Zwischen den Geschlechtern

Besonders bei den indigenen Völkern Nordamerikas gibt es Geschlechterrollen, die keine eindeutige Zuweisung einer einzigen Geschlechteridentität zulassen – und bei denen das auch nicht notwendig erscheint. Der Stamm der nordamerikanischen Navajos kennt ganze fünf Geschlechter: das Männliche, das Weibliche, den Hermaphroditen (Urform des Nádleehé, d. h. zweigeschlechtlich), männliche Nádleehé und weibliche Nádleehé. Nádleehé ist in der Sprache der Navajo jemand, der sich in einem ständigen Prozess des Wandels befindet.

Diese Vermischung beider Geschlechteridentitäten in einer Person beschreibt die gesellschaftliche Erscheinung der Two-Spirits. So zum Beispiel auch beim Stamm der Zuni seit 1600 bekannt. Die als zwischengeschlechtlich auftretenden Stammesmitglieder haben ein klar definiertes biologisches Geschlecht, bewegen sich aber sowohl kleidungstechnisch als auch in ihren Tätigkeiten zu großen Teilen in eher gegensätzlich konnotierten Geschlechterrollen.

Das hohe Ansehen der Two-Spirits in der Gesellschaft der Zuni wird mit einem von ihnen verehrten Geisteswesen in Verbindung gebracht, das als Teil einer vergangenen Zeit gilt, in der die Menschen noch beide Geschlechter in sich trugen und daher ein vollkommenes Ganzes sein konnten.

Die „Prinzessin” We’hwa

Die wohl berühmteste zwischengeschlechtliche Figur der Zuni heißt We’wha und lebte zur Zeit der Kolonialisierung von New Mexico. We’wha ist ein biologisch männlicher Zuni, der jedoch zeitlebens zwischen beiden Geschlechterrollen mäanderte: We’wha kleidete sich wie eine Frau und übte weibliche Tätigkeiten aus. Gleichzeitig war We‘wha aber auch Teil eines religiösen Männerbundes und kämpfte im Falle des Krieges.

Eine befreundete Ethnologin, Matilda Coxe Stephenson, beherbergte We’wha bei einem Besuch in Washington D.C., bei dem er/sie sogar dem Präsidenten Grover Cleveland im Weißen Haus vorgestellt wurde – als „Indian Princess”. Zu We’whas Ehren, der/die außerhalb des Stammes immer als „klassische” Frau wahrgenommen wurde, hielt man Empfänge ab. Als die Zuni mit der Regierung jedoch in Konflikt geraten, wird er/sie festgenommen, der Hexerei beschuldigt und muss ins Gefängnis.

We’wha. By John K. Hillers, 1843-1925, Photographer (NARA record: 3028457) – U.S. National Archives and Records Administration, Public Domain.

Was sich bei uns in Europa erst seit Ende des 20. Jahrhunderts zu etablieren scheint, war demnach schon lange bei anderen Völkern bekannt und geachtet. Und auch wenn die Two-Spirits mit der Besiedlung Amerikas und der Unterdrückung der indigenen Völker verschwinden, zeigen sie als eines von vielen Beispielen weltweit, dass multiple Geschlechteridentitäten keine neumodische Erfindung darstellen wie Genderkritiker behaupten. Sie sind ein relevanter Teil der Geschichte der Menschheit und somit ein wichtiges Element für die heutige Diskussion um Gleichberechtigung für Menschen aller Genderidentitäten.

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Jule Müller
Kompendium: Multiple Gender

Das Zeitalter des Protests

Kompendium: Multiple Gender

Das Zeitalter des Protests

By LSE Library - Demonstration, with Gay Liberation Front Banner, c1972, No restrictions

Parallel zu zahlreichen Protestwellen in den USA und Europa organisieren sich Ende der 1970er Jahre auch die LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten stärker, lauter und stolzer als jemals zuvor – ein wichtiger Schritt, um aus der starken sozialen Ausgrenzung auszubrechen.

Aller Anfang ist schwer

Es sind die auslaufenden 60er Jahre, das Zeitalter der Black-Power- und Anti-Vietnam-Bewegungen in den USA, der 68er-Studentenbewegung in Europa und der Frauenbewegung in großen Teilen der Welt. Auch die Aktivistinnen und Aktivisten der LGBT-Szene werden immer sichtbarer auf den US-amerikanischen Straßen.

Zwar wird beim Voguing-Tanzstil im Rahmen der Ballroom Culture Harlems von afro-amerikanischen Dragqueens eine schillernde neue Welt abseits der Norm gefeiert, dies geschieht jedoch hinter verschlossenen Türen. Eine neue Radikalität und Sichtbarkeit findet ihren Anfang in den Stonewall Riots von 1969, als sich eine Gruppe schwuler Männer, lesbischer Frauen und Dragqueens in einer New Yorker Bar in der Christopher Street gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei liefert.


An diesen Wendepunkt im Kampf für Gleichberechtigung und Anerkennung der LGBT-Community wird seitdem jedes Jahr weltweit mit dem Christopher Street Day bzw. der Gay Pride erinnert.

Im Kampf gegen die soziale Ausgrenzung

Die Gay-Liberation-Bewegung zeigt sich zu dieser Zeit noch nicht sehr offen gegenüber der Transgender-Szene, die sich wiederum auch nicht zwingend als Teil der Gay-Bewegung sieht. Daraus resultierend entstehen weitere wichtige Gruppierungen, die öffentlich auf ihre Belange sozial Benachteiligter aufmerksam machen. Darunter auch die STAR-Bewegung (Street Transvestite Action Revolutionaries).

Dabei handelt es sich sowohl um einen politischen Verein mit radikalen Ansichten zu Gendernormen als auch um ein Wohnprojekt für junge obdachlose Transgender-Frauen oftmals Sexarbeiterinnen und -arbeitern mit Migrationshintergrund. Als erster von zwei nicht-weißen Dragqueens gegründeter Verein ist die Gruppe bis heute eine der außergewöhnlichsten und inspirierendsten Beispiele im LGBT-Aktivismus.

Ich fühle mich heute ein bisschen schwul

Aber auch in anderen Teilen der Welt tut sich etwas: Im Jahr 1971 findet in Deutschland bei den Berliner Filmfestspielen die Uraufführung des Films Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von Rosa von Praunheim bei den Berliner Filmfestspielen. Sie zählt als Geburtsstunde der Schwulen- und später LGBT-Bewegung. Im Film heißt es unter anderem:

„Schwule schämen sich ihrer Veranlagung, denn man hat ihnen in jahrhundertelanger christlicher Erziehung eingeprägt, was für Säue sie sind.”

Um die bestehende offizielle Klassifizierung als psychische Krankheit anzuprangern, melden sich einige Schweden 1979 bei der Arbeit krank mit der Begründung, „homosexuell zu sein”. Nach einer zusätzlichen Übernahme der nationalen Behörde für Gesundheit und Soziales durch Aktivistinnen und Aktivisten wird Schweden weltweit das erste Land, das den Krankheitsstatus abschafft. Ein paar Jahre zuvor hatte Schweden ein Gesetz eingeführt, das Transsexuellen erlaubte, ihr Geschlecht operativ anzupassen und eine kostenlose Hormontherapie zur Verfügung gestellt.

Aber auch wenn es vereinzelte Lichtblicke gibt und die Nicht-Identifizierung mit dem eigenen Geschlecht inzwischen nicht mehr als Einzelfall bezeichnet werden kann, lässt die Gesellschaft bis heute noch vor allem außerhalb der Großstädte neben ihrer binären Geschlechterordnung kaum Platz für andere Modelle. Was nun fehlt, allerdings dringend notwendig ist, ist eine stärkere Vernetzung und Präsenz der Community, um auch Menschen in ländlichen Gegenden zu erreichen.

Doch ein Umbruch ist in Sicht: Eine spezielle Erfindung wird in der Zukunft wie keine zweite Wirtschaft, Arbeit und soziale Strukturen revolutionieren und der LGBT-Bewegung dabei helfen, mit ihrer Message auch das entlegenste Dorf zu erreichen: das Internet.

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Jule Müller
Kompendium: Multiple Gender

Das Ende der Schublade

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Das Ende der Schublade

"Die Grenzen der festgelegten Geschlechtsidentitäten beginnen langsam aber sicher zu verschwimmen." Foto: Jule Müller

Der Regenbogen ist das Trend-Accessoire der Neuzeit. Facebook bietet für das eigene Geschlecht inzwischen 72 Möglichkeiten zur Auswahl. Toleranz und Diversität werden genauso wie viele schillernde Vorbilder zelebriert. Sind wir schon angekommen?

Wann ist ein Mann ein Mann? Oder was auch immer er/sie sein möchte?

Wir sind im Jahr 2022, die Zukunft scheint zum Greifen nah, aber was hat sich in der Gesellschaft in puncto Gleichberechtigung getan? Gefühlt viel, faktisch gibt es aber noch eine Menge zu tun: Wenn die weltweite Angleichung der Löhne von Frauen und Männern im vergleichsweise langsamen Tempo der letzten zehn Jahre voranschreitet, dann prognostiziert das World Economic Forum den Aufschluss der Gender Pay Gap im Jahr 2133 – damit werden sich also noch die Kinder unserer Enkelkinder rumschlagen.

Geschlechterrollen aus neuer Perspektive eröffnen viel Freiraum für Geschlechtsidentitäten. Foto: Jule Müller

Es gibt allerdings auch Lichtblicke: So gibt es in den großen deutschen Städten mittlerweile eine Szene von Angehörigen beider Geschlechter, die eine Geschlechtsidentität unabhängig von der binären entwickelt und sich jenseits der herkömmlichen Rollenzuschreibungen definiert. Das würdigt auch Facebook, indem das soziale Netzwerk die Möglichkeit bietet, das eigene Geschlecht aus einer Liste von (je nach Sprache) bis zu 72 Begriffen zu wählen – darunter zwischen „Androgyn” und „Zwitter” auch „Two-Spirit”. Zudem kann die Ansprache durch „er”, „sie” oder „er/sie” erfolgen. Was manchen heteronormativen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen absurd viel vorkommen mag, lässt allen anderen die Möglichkeit, sich freier zu entfalten.

Bei Facebook kann man heute zwischen bis zu 72 verschiedenen geschlechtlichen Identitäten wählen. Foto: Screenshot Facebook

Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe den Gesetzgeber dazu verpflichtet, seit Ende 2018 neben den Bezeichnungen „männlich” und „weiblich” einen dritten Geschlechtsbegriff im Geburtenregister zu ermöglichen, um mit unbestimmten Geschlechtsmerkmalen geborene Kinder zu schützen. Seit einem Beschluss von 2015 kann das Geschlecht Transsexueller außerdem in Personalausweisen, Geburtsurkunden und anderen Dokumenten leichter und unbürokratischer angepasst werden.

Rainbow is the new Black

Die schwulen Männer sind inzwischen als stilbildende, kinderlose Doppelverdiener vom Marketing entdeckt worden und werden aktuell mit maßgeschneiderter Werbung überschüttet. Der Pride-Monat Juni steht im Zeichen der allgemeinen Andersartigkeit und feiert Homo-, Bi- und Transsexualität rund um die Welt mit zahlreichen Aktionen und Kampagnen, um für mehr Toleranz und Akzeptanz zu werben. Auch die großen Brands springen auf den Zug auf – ob nun zu Marketingzwecken oder aus idealistischen Gründen, aber immerhin: Der Regenbogen ist das neue Trend-Accessoire.

Und so verwundert es auch nicht, dass Olivia Jones orangefarbenes Haupthaar 2017 beim Amtsantritt Frank-Walter Steinmeiers aufblitzte. Genau diese Zeichen, Bilder und Vorbilder brauchen wir! Ein Blick ins Netz zeigt, welche Gruppe abseits der Tageszeitungen noch ganze Arbeit an der Toleranzfront leistet: die Influencerinnen und Influencer.

Die neuen Gender-Influencerinnen und -influencer

David Jakobs ist gebürtige Magdeburgerin und geht in Aalen, einem verschlafenen Nest in Baden-Württemberg, zur Schule. Sie denkt darüber nach, ob sie überhaupt ein Junge sein möchte. Nicht, weil sie sich in seinem Körper nicht wohl fühlt, sondern weil ihre langen Haare, falschen Wimpern und feminine Gestik ständig als „mädchenhaft” kommentiert werden. Dass sie selbst Männer attraktiv findet und ein guter Freund von ihr den Weg der Geschlechtsangleichung einschlägt, macht die Verwirrung während der Pubertätsjahre komplett. Glücklicherweise ist ihre Familie, allen voran ihre Mutter, eine große Unterstützung, auch in der Zeit, als sie – inspiriert von Vorbild Jeffree Star – Drag für sich entdeckt.

Inzwischen ist David 27, benutzt die Pronomen Sie und Ihr, arbeitet als Friseurin und Make-Up-Artist in Berlin und inspiriert mit ihren kunstvollen Looks nun als @davidthedaviddavid selbst die Instagram-Welt. In ihrer Berlin-Bubble hat sie hauptsächlich mit Leuten zu tun, die sie für ihre Nonkonformität feiern, die sich bei ihr dafür bedanken, dass sie offen mit ihrer Sexualität und Androgynität umgeht. Aber es gibt natürlich auch die sogenannten Haterinnen und Hater – die, die sie auf der Straße beschimpfen, weil sie damit überfordert sind, dass David in keine Schublade passt.

Wind of Change – die fluide Identität

„Ich wünschte, die Menschen würden generell weniger in Labels denken, wenn es um Geschlechterrollen geht. Ich trage zu 90 % Frauenklamotten und viel Make-up. Warum sollte das Jemanden stören? Ich kann doch einfach ich sein.” Dass die Generation nach ihr schon viel offener zu sein scheint und sogar auch große Marken auf Aufklärung und Toleranz setzen, gibt David Hoffnung, auch wenn sie die Gesellschaft gerne schon einen Schritt weiter sehen würde: mit genderneutralen Ausweisen, Pronomen und Toiletten. Denn sie „würde eigentlich viel lieber mit den Mädels Pipi machen”, lacht sie.

“Ich trage zu 90 % Frauenklamotten und viel Make-up, bin aber unheimlich gerne ein Junge. Warum soll ich mich entscheiden müssen? Ich kann doch einfach ich sein.” Foto: Jule Müller

David, wie viele andere ihrer Kolleginnen und Kollegen im Netz, ermöglicht den Menschen eine Horizonterweiterung, die so viel tiefer geht als der erste Blick auf die glossy Fotos es zunächst vermuten lassen. Ihr Publikum: die heranwachsende Generation, die gerade selbst dabei ist, sich zu finden, aber auch jene, die wenig Überschneidungspunkte mit LGBT-Themen haben. Menschen wie David lassen sich nicht einordnen, sie fordern unsere Gedankenmuster heraus und das, indem sie einfach nur so sind, wie sie sich fühlen. Es gibt keine Schublade für sie. Schubladen sind für Kommoden. Die Grenzen der festgelegten Geschlechtsidentitäten beginnen langsam aber sicher zu verschwimmen.

Weiterlesen Weil 2030 ist: Neue Geschlechterrollen braucht das Land
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Jule Müller
Kompendium: Multiple Gender

Weil 2030 ist: Neue Geschlechterrollen braucht das Land

Kompendium: Multiple Gender

Weil 2030 ist: Neue Geschlechterrollen braucht das Land

Obwohl die verschiedensten geschlechtlichen Identitäten bereits fester Bestandteil der Gesellschaft von Morgen sind, ist diese Diversität noch nicht vollständig darin etabliert. Foto: Chrisopher Burns

Während die Genderdebatte nicht an Bedeutung verloren hat, ist die ausgewogene Repräsentation aller Geschlechter und Identitäten in Politik und Wirtschaft noch nicht erreicht. Was kann sich im Jahr 2030 geändert haben? Ein Gedankenexperiment:

Veränderung braucht Zeit

Wir befinden uns im Jahr 2030, die Genderdebatte wird noch immer zuverlässig vorangetrieben, steckt aber auch in Sackgassen fest, die das Umdenken in der Gesellschaft vor neue Herausforderungen stellen. Vor allem hat sich gezeigt, dass sich ein echter Wandel selbst bei aller Euphorie nicht von heute auf morgen vollzieht.

Auch wenn in den Online-Medien oft ein anderes, hoffnungsvolleres Bild gezeigt wird: Die tatsächliche Akzeptanz nicht-konformer Genderzugehörigkeiten und die Aufhebung bürokratischer sowie zwischenmenschlicher Hürden hat noch immer einen weiten Weg vor sich – genauso wie die Gleichstellung von Mann und Frau, die noch nicht als erreicht betrachtet werden kann.

Rollenklischees sind überholt

Typisch Mann? Typisch Frau? Die alten Rollenbilder zerbrechen. Foto: Chris Barbalis

Inzwischen ist es „normal” in Literatur, Kino, Film, auf Ämtern und generell allen Veröffentlichungen darauf zu achten, ein diversitäres Gesellschaftsbild aufzuzeigen. Die Geschlechterklischees halten sich zwar noch hartnäckig in Politik, Chefetagen, traditionellen Unternehmen und Stockfoto-Datenbanken, aber moderne Unternehmen, die wettbewerbsfähig bleiben wollen, müssen sich vermehrt um eine vielfältigere Besetzung, einen erweiterten Wertekanon und die damit einhergehende, vielfältige Außendarstellung bemühen.

Klassische Frauen- bzw. Männermagazine mussten dem Druck der Leserinnen und Leser nachgeben und dürfen manipuliertes, sprich verzerrtes, übermäßig retuschiertes oder den Körper irreal abbildendes Material nur unter genauen Angaben der Änderungen vornehmen.

„Magermodels” gehören genauso auf die Titelseiten wie ihre „Plus-Size”-Kolleginnen und -Kollegen. Und alle, deren Statur sich zwischen diesen beiden Extremen bewegt. Wir sehen die Welt digitaler und gleichzeitig realer als noch vor ein paar Jahren.

Stereotype wie High Heels und Strapse bei Frauen haben genauso ausgedient wie der Sixpack und die Zigarre bei Männern – und werden höchstens noch als ironisches Zitat verwendet. Autos werden nicht mehr zwangsläufig an Männer oder Lippenstifte nur an Frauen vermarktet. Die neuen Überschneidungen der Geschlechter ermöglichen neue spannende Mischungen und Narrative im Marketing.

Die Leserin, der Leser, das Leseron?

Das generische Maskulinum, das im Zuge der Gender-Debatte lange Zeit als einer der wichtigsten Eckpfeiler patriarchalischer Herrschaft galt, ist nicht mehr allgemein gültig für gemischtgeschlechtliche Gruppen. Die Möglichkeit, anstelle von „Lesern” nun von „Leser*innen” zu schreiben und zu sprechen, hat sich etablieren können. Allerdings steht eine erneute Überholung der deutschen Sprache bevor, um auch eine dritte, geschlechterneutrale Bezeichnung zu ermöglichen. Unter das zusätzliche Neutrum fallen dann alle Identitäten, die sich nicht als klar „männlich” oder „weiblich” kategorisieren lassen (wollen). Die Häufigkeitsrate liegt hier seit einigen Jahren konstant bei wenigen Prozent, auch wenn die Debatte aufgrund ihrer großen medialen Präsenz zeitweise anderes vermuten lässt.

Die zunehmende Auflockerung der Geschlechterrollen ermöglicht immer mehr Menschen die freie Entfaltung ihrer Identität. Foto: Eyeem

Das Gedankenexperiment, alle weiteren gängigen Gender-Identitäten auch sprachlich durch neue Endungen zu repräsentieren, („Liebe Leser, Leserinnen, Leseri, Lesero, Leserä, Leseronnen, Leseranten, Leserer und Leserus”) ist indessen als vorläufig gescheitert erklärt worden.

Das Kabinett der Zukunft

Gleichberechtigung der Geschlechter „Mann” und „Frau” ist nicht nur eine moralisch geprägte Zielsetzung, sondern ergibt auch wirtschaftlich Sinn, denn: Je ausgeglichener Bildung, Gesundheitssupport, politische Macht und finanzieller Erfolg sind, desto besser kann eine Gesellschaft wachsen. Das gilt für ganze Länder oder Kontinente, aber auch für Firmen und Kabinette. Und es braucht unterschiedliche Vorbilder in hohen politischen Positionen!

So wie einst Kanadas Ministerpräsident Justin Trudeau, der bereits 2015 ein Kabinett zusammenstellte, das weltweit seinesgleichen suchte: 50 % Frauen, 50 % Männer, ein Inuit, vier Sikhs, eine Geflüchtete, eine Blinde, ein Rollstuhlfahrer, ein Homosexueller, ein Astronaut, eine Ärztin – und das bei gerade mal 30 Kabinettsmitgliedern. Seine vielfältige Wahl begründete Trudeau damals mit: „Weil wir im Jahr 2015 sind.” Wenn dies seine Worte vor 15 Jahren waren, was sollte dann heute eigentlich Standard sein?

Im Idealfall sollten Unterschiede nicht negiert werden, da auch sie uns ausmachen. Ob jemand nun männlich, weiblich oder ein Dazwischen als Genderidentität gewählt hat oder ob jemand körperlich beeinträchtigt, aus einem fremden Herkunftsland stammt oder Mitglied einer anderen Religionsgemeinschaft ist: Unterschiede sind wichtig, sie machen eine Gesellschaft aus. Ziel sollte es aber sein, dass sie keinen Einfluss auf die Möglichkeiten eines jeden einzelnen haben – weder beruflich noch gesellschaftlich.

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Jule Müller
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Die Befreiung von Geschlechterrollen

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Die Befreiung von Geschlechterrollen

Mann, Frau oder eine der vielen Wahlmöglichkeiten dazwischen. Für die Gesellschaft der Zukunft spielt das Geschlecht nur noch eine untergeordnete Rolle. Foto: Liliia Beda

Geschlecht ist längst kein starrer Begriff mehr, sondern kann vom Individuum selbst ausgelegt werden. Die gesetzliche Basis dafür ist bereits vorhanden, aber wie genau kann diese neu gewonnene Multiple-Gender-Freiheit aussehen? Eine Prognose.

Was wird es denn, Junge oder Mädchen?

Das Geschlecht ist kein Schicksal mehr, das von Beginn an festgelegt ist, sondern ein weites Feld für individuelle Vorlieben und unterschiedliche Lebensphasen. Zwar finden fast alle Geburten im Jahr 2300 noch auf natürlichem Wege statt, die Möglichkeiten zur Geschlechterwahl sind aber nicht mehr die gleichen. Während sich früher ab der sechsten Schwangerschaftswoche ein Geschlecht ausbildete, gibt es inzwischen größere Handlungsspielräume.

Eltern haben neuerdings auch die Wahl, ob sie ein intergeschlechtliches Kind mit sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechtsmerkmalen bekommen möchten, damit es später selbst entscheiden kann, zu welcher der beiden Seiten es tendiert. Die notwendigen Anpassungen können dann vorgenommen werden, oder es kann sich auch dafür entscheiden mit dem Doppelgeschlecht zu leben.

“Wisst ihr schon was es wird?”. Diese Frage stellt 2300 niemand mehr. Foto: Julie Johnson

Die Kritik, dass damit die Reproduktion der Menschheit gestört würde, dürfte bald der Vergangenheit angehören: Schließlich haben Forscher bereits die ersten Geburten außerhalb des menschlichen Körpers vorgenommen.

Alle gleich und doch alle anders

Im Laufe ihres Lebens nehmen Menschen inzwischen mitunter mehrere Geschlechterrollen an: Man bewegt sich zwischen androgyn, extrem machohaft, feminin oder allem gleichzeitig. Das Geschlecht ist weniger klar definiert, denn es wird als ein Spektrum betrachtet, auf dem sich Individuen mehr oder weniger in unterschiedliche Richtungen denken können. Die voranschreitende Urbanisierung hat, neben all ihren Nachteilen, auch dazu geführt, dass nahezu 90 % der Weltbevölkerung in den kreativen, trendstiftenden Megastädten leben und so viel stärker als früher mit einer Bandbreite an Lebensmodellen konfrontiert werden. Multiple Gender ist nicht mehr nur ein Begriff, sondern ein allgegenwärtiges Spielfeld, auf dem gelebt wird.

Die von der LGBT-Community einst geforderten Rechte wurden gesetzlich festgelegt – beispielsweise kann die Änderung des Geschlechts in Dokumenten jederzeit unbürokratisch im Netz durchgeführt werden.

Die Gleichberechtigung von Mann, Frau und Doppelgeschlechtlichen ist bis auf wenige Ausnahmen weltweit als erreicht bezeichnet, die Löhne sind angepasst, Frauen, Männer, Doppelgeschlechtliche und Transgender werden auch in Politik und Wirtschaft ohne Anwendung von gesetzlichen Quoten angemessen repräsentiert. In den USA wurde zuletzt das erste doppelgeschlechtliche Präsidenton vereidigt.

“Dadurch, dass das Individuum durch sein Geschlecht nicht mehr auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegt ist, können auch keine Ansprüche mehr an bestimmte Privilegien geknüpft werden.” Foto: JC Gellidon

Die individuelle Leistung zählt

Da alte geschlechterabhängige Macht- und Unterwerfungsstrukturen als beseitigt gelten, kann sich die Entwicklung auf dem Genderspektrum ganz unabhängig davon vollziehen. Die soziale Definition von Geschlechtereigenschaften wurde weitestgehend aufgelöst. Längst vergessen sind die Erinnerungen daran, dass Männer aggressive, starke Macker und Frauen gefühlvolle Mütter darstellen.

Das Geschlecht bestimmt nicht mehr, wer in der Gesellschaft Macht hat und wer nicht. Dadurch, dass das Individuum durch sein Geschlecht nicht mehr auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegt ist, können auch keine Ansprüche mehr an bestimmte Privilegien geknüpft werden. In der Arbeitswelt entscheidet die individuelle Leistung darüber, in welcher Position sich das Individuum befindet – und nicht der Körper oder die sexuellen Vorlieben.

Cis-Aktivismus gewinnt an Bedeutung

Allerdings ist es inzwischen im Angesicht der Wahlmöglichkeiten von Geschlechtern und Rollen auch verbreitet und sozial anerkannt, damals als veraltet abgeschaffte Normen wiederzubeleben. Vor allem das Modell „eine/r arbeitet, eine/r kümmert sich um die Kindererziehung” erfreut sich wieder zunehmender Beliebtheit.

“Im Laufe ihres Lebens nehmen Menschen inzwischen mitunter mehrere Geschlechterrollen an.” Foto: Nicolas Ladino Silva

Cis-Aktivistinnen und -Aktivisten setzen sich dafür ein, dass in einer freien, gleichberechtigten Welt auch Platz für weniger liberale, flexible Menschen sein muss. Die neuen Freiheiten dürfen keine neuen sozialen Zwänge darstellen. Allerdings ist es nun an den Menschen selbst, ihre individuellen Wege zu gestalten und ihre Freiheiten auch zu nutzen.

Endlich angekommen

Die weiter gesteckten Perspektiven auf das Leben und die Gesellschaft an sich, welche sich Durchsetzung verschafft haben, schaffen jedem seinen (selbst gewählten) Platz in der modernen, diversitären Gemeinschaft. Dazu gehören natürlich auch Modelle, die in der Vergangenheit als normal galten und heute womöglich als altmodisch betrachtet werden könnten. Diversität bedeutet, jeder Beziehungs-, Erziehungs- und Lebensgestaltung ihren Sinn zuzugestehen und sie als natürlichen Teil eines Ganzen anzuerkennen.

Das, was im letzten Jahrtausend bei den inzwischen fast vergessenen Two-Spirits der Ureinwohner Amerikas gelebt, bei den lauten Protesten der ersten Aktivistinnen und Aktivisten in New York gefordert und im Zuge der weltweiten, digitalen Revolution allmählich durchgesetzt wurde, ist kein Ziel, für das heute noch gekämpft werden muss. Denn wir sind schon da.

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