Die Kirchenlehrerin und Äbtissin Hildegard von Bingen (1098 – 1179) verband antikes Körperverständnis mit offenbartem Wissen, das sie in Lehrbüchern zum ersten Mal in deutscher Sprache festhielt. Dabei ging es ihr nicht um eine wissenschaftliche Einordnung der Welt, sondern um den Nutzen von Pflanzen, Tieren und anderen Elementen der Natur als Medizin für den Menschen. Ihr Ziel: Das göttliche Gleichgewicht im Menschen wiederherzustellen.
Wenn die Säfte aus dem Gleichgewicht kommen
Hildegard von Bingen gilt als eine der bekanntesten deutschen Denkerinnen des Mittelalters. Neben ihren theologischen und poetischen Werken entfalten vor allem ihre Aufsätze zu den Themen Nahrung und Gesundheit immer noch ihre Wirkung in der Jetztzeit. Von Bingen ist eine Verfechterin der Lehre der Körpersäfte. Sie sieht Krankheit als einen Zustand, in dem die Körpersäfte nicht mehr im Gleichgewicht fließen. Das gilt für körperliche wie auch psychische Zustände. Um die Säfte wieder in Gleichgewicht zu bringen, hilft dem Menschen die von Gott geschaffene Natur und ihre Pflanzen. Ernährung wird bei Hildegard von Bingen zum zentralen Mittel für den Heilungsprozess und die Nahrungsaufnahme zum heilenden Ritual.
Die Lehre von den Körpersäften war von der Antike bis ins 19. Jahrhundert hinein eine allgemein anerkannte medizinische Perspektive. Auch Hildegard von Bingen beruft sich auf dieses System. Die Säftelehre spricht von vier sogenannten Primärqualitäten: warm vs. kalt, trocken vs. feucht. Mit diesem System beschreibt von Bingen in ihrer Arbeit die Verwendung und Zuordnung von bestimmten Pflanzen und Gewürzen als Heilmittel. Nehmen wir Zimt: Dieser ist in diesem System sehr warm und mäßig feucht. So soll er die schlechten Säfte mindern und den Fluss der heilenden Säfte fördern. Zimt kann auf einem Stück Brot zu sich genommen werden oder indem man diesen von der Hand ableckt. Bei regelmäßigem Verzehr kann sich der Mensch so wieder ins Gleichgewicht bringen.
Nahrung als göttliche Medizin – Wer braucht da schon die Wissenschaft?
Ernährung wird bei von Bingen als ein integraler Bestandteil des Heilungsprozesses gesehen. Bei Hildegard gibt es zahlreiche Hinweise für gut verdauliche Kost und Rezepte, die sie Kranken empfiehlt, um wieder zu gesunden. Der Mensch als göttliches Wesen steht hier im Austausch mit der Schöpfung, denn alles kommt von Gott und es waren göttliche Visionen, die Hildegard von Bingen erlaubten, das zu erkennen, was den Menschen hilft. Heißt im Klartext: Sie hat nicht im heutigen Sinne die Effekte ihrer Heils-Ideen wissenschaftlich überprüft. Was von Gott kommt, kann ja schließlich nicht schaden oder?
Hildegard von Bingen hat bereits zu Lebzeiten viel Anerkennung innerhalb der Kirche erfahren und bis heute hat ihre medizinische Lehre viele Fürsprecher:innen. Sie war mit ihrer Lehre im Mittelalter so erfolgreich, weil sie als Beraterin in allen kirchlichen und weltlichen Machtsystemen vernetzt war. Als erste Vertreterin eines dezidiert mystischen, das heißt direkt von Gott erfahrenen Wissens, hatte sie eine Sonderstellung, die sie bis heute so bekannt macht. Darüber hinaus nutzte sie nicht nur die griechisch-lateinischen Begriffe, sondern verband sie mit den volkstümlichen Kräuternamen und machte so medizinisch-heilkundliches Wissen in deutscher Sprache erst zugänglich. Ihre Beschreibungen sind nicht durch und durch medizinisch, sondern auch von Laien zu gebrauchen. Die einfache Sprache machte so medizinisches Wissen für mehr Menschen verfügbar. Und vermutlich brauchten die Menschen im Hochmittelalter auch die Behauptung, dass das Wissen von Gott kommt. Weil damals, nicht viel anders als heute, prinzipiell eher ungern auf eine Frau gehört wurde.
Hildegard von Bingen wirkt bis heute nach
In der Forschung zu Hildegard von Bingen gibt es zugleich Debatten darüber, inwiefern die Werke zur Naturheilkunde wirklich Teil von von Bingens Schaffen sind. Die Abschriften aus diesem Teil ihres Wirkens sind teilweise erst weit nach ihrem Tod entstanden und nicht alles, was von Bingen heute zugeschrieben wird, muss sie wirklich gesagt haben. Hinzu kommen zahlreiche Übersetzungsfehler und historische Ungenauigkeiten, da von Bingen sich zum Teil volkskundlicher Namen für verschiedene Kräuter bediente, die heute nicht mehr eindeutig zugeordnet werden können. Es ist also nicht alles göttlich, was glänzt. Ein Beispiel ist der Dinkel: Auch wenn der Dinkel bei Hildegard von Bingen lobend erwähnt wird, spielt er keine große Rolle in ihrer Lehre. Die moderne Hildegard-Bewegung dagegen sieht im Dinkel das beste und gesündeste Getreide, das wie ein Allheilmittel gefeiert wird. Die Dinkelbrötchen aus dem Reformhaus und die Dinkel-Kekse vom Bio-Bäcker verdanken wir damit also auch dieser übertriebenen und teilweise verfälschten Leseweise der ernährungsmedizinischen Offenbarungen, die Hildegard von Bingen erreicht haben sollen.
Was Hildegard von Bingen bis heute relevant macht, ist ihr ganzheitlicher Ansatz und ihre Einordnung von lokalen Kräutern in ein System, das volkstümliche Heilkunde und Erfahrungswissen bündelt. Schließlich ist es dieses Erfahrungswissen, das über Generationen und Jahrhunderte hinweg gesammelt wurde, das den Wissensstand von von Bingen prägte und ihr erst ermöglichte, in ihrer Arbeit Pflanzen und Ernährung als Heilmittel zu verstehen.