Die Ablösung von den Grund- und Leibherren brachte den Bauern in der Vergangenheit Entscheidungsfreiheit. In der Folge verbesserte sich die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und die Mobilität zwischen Stadt und Land. Die Bauernbefreiung legte den Grundstein der Urbanisierung.
Wenn die Diversity-Beraterin Anise D. Wiley-Little von „profitabler Vielfalt” und „Inklusivem Wachstum“ spricht, dann meint sie damit ein Konzept, das die Kategorien Gender und Race genauso betrifft wie Klassen- und Armutsgrenzen. Intersektionales Denken wird dabei auf wirtschaftliche Erfolgsraten übertragen.
Wiley-Little argumentiert, dass wir die Vielschichtigkeit und Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Diskriminierung anerkennen und anfangen müssen, soziale Gleichstellung als Erfolgsmotor zu verstehen. Würde man diesen Gedanken auf das Deutschland des 19. Jahrhunderts übertragen, dann wäre die Bauernbefreiung – zumindest was die Klassengrenzen und soziale Mobilität betrifft – wohl ein Schritt in die richtige Richtung.
Der Bauer: vom Verwalter zum Bürger
Dieser Schritt aber vollzog sich, anders als der Name suggeriert, keineswegs von heute auf morgen. Es war ein zäher, über 100 Jahre währender Reformprozess, in dem sich die herrschaftlichen Rechte des Adels an die Bauern stückweise auflösten. Bis dato waren die Bauern als Leibeigene der persönlichen Verfügung der Leibherren unterstanden: eine Vorstufe der Sklaverei, wenn man so will. Am Ende dieses Prozesses war der Bauer nicht mehr nur Land-„Wirt”, sondern gleichberechtigter Land-„Bewohner” – er wurde vom Verwalter zum Bürger. Doch die Reformen stärkten keineswegs nur die Bauern. Sie betrafen die Landwirtschaft als Ganze und trugen zu mehr Profit, gesellschaftlicher Stabilität und Sicherheit bei. Die Ungleichheit der vorangehenden Jahrhunderte erwies sich im Nachhinein als Hindernis für das Wirtschaftswachstum der damals noch im Entstehen begriffenen deutschen Gesellschaft, anstatt, wie einst vermutet, als ihr Garant.
Der revolutionäre Funke springt über
Die Schockwellen der französischen Revolution hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch Preußen, Sachsen und die anderen deutschen Regionen erreicht. Wo die Leibeigenschaft in Frankreich bereits im Jahr 1779 aufgehoben worden war, sollte es hier noch knapp 50 Jahre andauern, bis der revolutionäre Funke übersprang. Es war das Jahr der Pariser Julirevolution, 1830: Aus der latenten Unzufriedenheit der deutschen Bauern wurde offener Aufruhr. Zollhäuser wurden gestürmt, Obrigkeiten entwaffnet. Die liberale Opposition in den deutschen Regionen setzte nach und nach Verfassungen und Gesetze durch, die die Abhängigkeiten der Bauern aufhoben und dem Adel seine landwirtschaftlichen Privilegien absprachen. Die Auflösung der einstigen Ordnung endete allerdings nicht bei den Rechten der Bauern: Sie führte zu einer umfassenden Veränderung der Gesellschaft auf dem Weg hin zur Moderne. Demokratie, Industrialisierung, Mobilität – all das wäre ohne die Bauernbefreiung von damals schwer vorstellbar gewesen.
Das Beispiel Hannover
Die Gesetze, die im Jahr 1931 und in den Folgejahren in Regionen wie Hannover verabschiedet wurden, waren zwar zu Beginn nur in verwässerter Form durchgesetzt worden. So beschreibt der Historiker Karl Heinz Schneider in seinem Standardwerk Geschichte der Bauernbefreiung, wie in Hannover noch über 30 Jahre nach Erlass der Ablösungsregelungen nur drei Viertel der feudalen Lasten aufgehoben waren. Von einem schlagartigen Befreiungsschlag kann also keine Rede sein. Dennoch, so Schneider: „Die Reformen [brachten] einen erheblichen Fortschritt. Die Bauern wurden freie Eigentümer ihres Landes, und es entstand ein freier Immobilienmarkt, der eine wichtige Voraussetzung für den Urbanisierungsprozess in Deutschland war.”
Rückblickend war die Bauernbefreiung eine historische Chance: Auf ihr aufbauend wurden neue Bewirtschaftungstechniken entwickelt, erstmals Kunstdünger gefördert und neue Früchte angebaut. Die Getreideproduktion und die Viehbestände wuchsen. Letztlich ergänzten die Feudalablösung und die einsetzende Industrialisierung sich gegenseitig.