Ob per Auto, Flugzeug oder Eisenbahn – die Zukunft rauscht für die Futuristen mit atemloser Geschwindigkeit heran und soll alte Vorstellungen institutioneller Traditionen radikal erneuern.
„Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! […]Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.“
Manifest des Futurismus Nr. 8 von Filippo Tommaso Marinetti (1909)
Anfang des 20. Jahrhunderts will der italienische Dichter und studierte Jurist mit dem Künstlernamen Filippo Tommaso Marinetti die Literaturwelt mit einer neuen avantgardistischen Bewegung auf den Kopf stellen – und damit gleich auch die Gesellschaft für eine neue Zukunft beschleunigen.
Geboren wurde Marinetti als Emilio Angelo Carlo in Ägypten im Jahr 1876. Sein Vater arbeitete als Anwalt für die Firma „Suez Canal Company“, die den besagten Suezkanal baut. Seine Eltern leben in „wilder Ehe“ und ermöglichen Emilio eine kosmopolitische Kindheit und Erziehung: Er studiert in Ägypten, Paris und Italien, wo er in Pavia seinen Abschluss in Jura macht. Doch die schillernde, wohlhabende Figur möchte lieber Gedichte schreiben und gründet 1905 ein eigenes Magazin, Poesia, in Mailand. Inspirationen zu seinem späteren futuristischen Manifest erhält er bei einem Besuch einer Art französischen Kommune, genannt Abbaye de Créteil. Doch das war nicht die einzige prägende Erfahrung. Bei einem Autounfall außerhalb von Mailand jagt der Geschwindigkeitsfanatiker seinen Wagen in den Straßengraben, um zwei Radfahrern auszuweichen. Als er aus dem Graben herausgezogen wird, beschließt er, dass fortan Schluss mit den Mätzchen und der Dekadenz des italienischen Jugendstils sein muss. Mehr noch, die Kunst muss mit ihrer Vergangenheit brechen, Museen, Akademien und Bibliotheken müssen zerstört werden.
Höchst medienwirksam veröffentlicht er schließlich 1909 sein futuristisches Manifest unter anderem auf dem Cover des großen französischen Magazins Le Figaro. Mit seinen 11 Thesen läutet er das Maschinenzeitalter ein und will zuerst einmal Poesie und Literatur von allem Lästigen befreien: weg von der herkömmlichen Zeichensetzung und der Syntax hin zu einer kreativen Typografie.
Die Zukunft liegt in der Technologie und der Geschwindigkeit
„Der Futurismus gründet sich auf die vollständige Erneuerung der menschlichen Sensibilität als Folge der großen Entdeckungen […] Diejenigen, welche heutzutage Dinge benutzen wie Telefon, Grammophon, Eisenbahn, Fahrrad, Motorrad, Ozeandampfer, Luftschiff, Flugzeug, Kinematograph und große Tageszeitungen, denken nicht daran, dass diese verschiedenen Kommunikations-, Verkehrs- und Informationsformen auch entscheidenden Einfluss auf ihre Psyche ausüben.“
Filippo Tommaso Marinetti: Die drahtlose Einbildungskraft (1913)
Seine Vorstellung von Futurismus in Design, Architektur und Malerei ist dynamisch und fortschrittsgetrieben. Die Zukunft liegt in der Technologie und der Geschwindigkeit. Radikal muss dafür alles Tradierte, wie Bildungsinstitutionen, abgeschafft werden, um Neues zu erschaffen. Bei den privaten Feiern und öffentlichen Literatursalons von Marinetti werden fröhlich alle Literaturgenres zusammengemixt, um gegen traditionelle Werte anzugehen. Chaos und Tumult sind das Ziel jeden Abends. Bei den Happenings proklamiert er mit seinen Freunden das Manifest und beschimpft das Publikum, das wiederum auch gekommen ist, um ihn mit Gemüse zu bewerfen. Für Marinetti ist es kein gelungener Abend, wenn die Leute nicht aufeinander losgehen.
Vor allem in der Architektur, aber auch in der Malerei und in der Dichtkunst prägt der Futurismus einen stromlinienförmigen Stil. Für den Futurismus symbolisiert das Auto den Fortschrittsgedanken perfekt. Sein stromlinienförmiges Design verspricht den Rausch von Geschwindigkeit und es bietet individuelle Mobilität für jeden. Die Zukunft macht Krach und jagt mit dem Getöse eines Rennwagens vorwärts.
„Die Kunst und die Künstler an die Macht“
1918 gründet Marinetti schließlich eine politische „futuristische Partei“, die Partito Politico Futurista (PPF), die sich unter anderem für die Abschaffung des Pabstes und des Wehrdienstes einsetzt, für Lohngleichheit der Geschlechter, den Acht-Stunden-Tag und zudem auch für den Verbraucherschutz kämpfen will. Das sind alles sehr moderne Forderungen unter dem Motto „Die Kunst und die Künstler an die Macht“. Die Partei wird jedoch schon ein Jahr später von der faschistischen Partei von Benito Mussolini aufgesogen. Das ist aber kein Widerspruch, im Gegenteil: Den Futurismus kennzeichnen eine proto-faschistische Verherrlichung der Industrialisierung, der Technologisierung und des Kriegs. Und Mussolini ist zweifellos von vielen Ideen Marinettis inspiriert. Vice versa wird Marinetti eines der ersten Mitglieder der faschistischen Partei und ihr glühender Anhänger. Mit seinen Freunden verfasst er: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“
Später ist ihm der Faschismus aber wieder zu reaktionär. Gleichzeitig verfasst Marinetti das Manifest der futuristischen Küche und proklamiert eine nationalistische Ernährung nur mit Lebensmitteln aus der Region bzw. aus Italien. In den 1930ern scheint er sich doch mit dem Regime gut stellen zu wollen und biedert sich immer mehr an. Mit stattlichen 65 Jahren zieht er 1942 für ein paar Wochen jeweils gleich in zwei Kriege – er kämpft im Zweiten Abessinienkrieg in Äthiopien und an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg. Bis zu seinem Tod bleibt er buchstäblich ein Dichter: Marinetti stirbt 1944 beim Verfassen von Kriegsgedichten an einem Herzstillstand.
Futurismus: Eine radikale Kunstbewegung wird zu einer Zukunftsphilosophie, die wiederum zu einer Partei mit modernen Forderungen für eine zukunftsgerichtete Gesellschaft wird. Nur leider ist sie zu sehr ihrer Zeit voraus. Ihren Glauben an den technischen Fortschritt als Antreiber der Gesellschaft teilen sie jedoch mit den Anhängerinnen und Anhängern von späteren Zukunftsphilosophien wie den Techno-Utopisten, Transhumanisten, Akzelerationisten und Solutionisten.