Schon lange bevor sie als juristischer Tatbestand gehandelt wurden, waren Betrug und Täuschung gesellschaftlich relevant. Zur Zeit des Spätmittelalters hielten sich einige Landstreicher:innen mit Hochstapelei über Wasser. Während sie aufgrund ihrer unehrlichen Methoden als Aussätzige gebrandmarkt wurden, idealisierten die weltberühmten Geschichten eines deutschen Betrügers ebenjene Praktiken.
Mehrere Dutzend Nasen ragen in die Höhe, um die neunzig Augenpaare stieren wie gebannt gen Himmel. Die Zuschauer:innen halten kollektiv den Atem an, keiner rührt sich. Lediglich rund sieben Meter über ihren Häuptern herrscht Bewegung. Auf dem Erker des Magdeburger Rathauses fuchtelt eine hagere Gestalt mit den Armen, als handele es sich um eine Amsel. Trotz ihrer sichtlichen Bemühungen wird die Masse bald ungeduldig. „Nun flieg doch endlich!“, tönt eine tiefe Stimme aus der Menge. „Ja, flieg!“, schreit ein Kind aus der ersten Reihe. Schon bald stimmen die Anwesenden in einen fordernden Singsang ein. „Wir wollen ihn fliegen sehen, wir wollen ihn fliegen sehen, wir wollen ihn fliegen sehen“, trällern sie einstimmig. Das kleine Männchen hoch über ihnen stoppt abrupt und zuckt mit den Schultern. „Ich will fliegen. Ich will ja. Das habe ich doch ausrufen lassen. Ich will, aber ich kann nicht! Denn ich bin nur ein Spaßvogel.“ Enttäuscht, doch wenig verärgert, löst sich die Menschenmenge unter ihm langsam auf – das ein oder andere Lächeln kann sich keiner der Anwesenden verkneifen. Schon wieder hat der Schelm sie getäuscht. Zwar hatte er tatsächlich nur gesagt, dass er fliegen wolle, doch die Bürger:innen Magdeburgs hatten buchstäblich gehofft, ihn fliegen zu sehen. Die Gestalt auf dem Erker zählt derweil all die Taler, die sie als Bezahlung für die Flugshow verlangt hat. Den vollen Betrag steckt sich der Gaukler auf dem Rathaus natürlich trotz des ausgebliebenen Flugs ein.
Es ist eine von vielen Geschichten, die noch heute über die deutschen Grenzen hinaus an Till Eulenspiegel erinnern. Von Menschen bis hin zu ganzen Städten täuschte der Narr während des Spätmittelalters alles und jeden, der ihm über den Weg lief. In all den Schwänken, die vom Gaukler des 14. Jahrhunderts überliefert wurden, trat Eulenspiegel mal als Seiltänzer, mal als Bäcker, Schneider oder Knecht auf. Immer geleitet vom Hunger, arbeitete er hier und dort. Meist schaffte er es, andere auszutricksen, indem er sie zu wörtlich nahm oder andere ihn nicht wörtlich genug. So kaufte er kurzerhand einen Karren mit Erde, als ihn der Herzog von Celle seines Landes verwies. Im Karren herumfahrend setzte Till keinen Fuß auf dessen Boden und konnte so bleiben. Ein anderes Mal verkaufte Eulenspiegel einem Kürschner einen Hasen. Als dieser wenig später feststellte, dass es sich um eine Katze handelt, die lediglich in ein Hasenkostüm eingenäht war, war der Ärger groß.
Till Eulenspiegel als wandelbarer Scherzvogel und Betrüger
Was die Magdeburger damals nicht wussten: Um 1510 würde ein berühmtes Buch namens „Thyl Vlenspiegel“ erscheinen. Neben anderen Begebenheiten erzählt es auch von seinem bizarren Flugversuch und wurde binnen weniger Jahrzehnte zum weltweiten Bestseller. Wie Eulenspiegel Menschen an der Nase herumführte, sie betrog und wegen seines gewitzten Ulks glimpflich davonkam, imponierte den Menschen offensichtlich auch über das Spätmittelalter hinaus. Er ist womöglich der erste von vielen Betrüger:innen in Deutschland, für den die Menschheit eine regelrechte Faszination hegt. Obwohl oder gerade weil es sich bei seinen Streichen nicht um versöhnliche Scherze handelte. Eulenspiegel täuschte häufig falsche Tatsachen vor und verschaffte sich damit nicht selten vorsätzlich auf Lasten anderer einen Vermögensvorteil. Heute wissen Forscher:innen, dass sich die Kultfigur Till Eulenspiegel vermutlich aus mehreren historischen Persönlichkeiten zusammensetzt.
Bücher der Gesetzlosen warnten vor mittelalterlichen Betrugsmaschen
Anderen Landstreicher:innen, die sich zur selben Zeit mit kleineren und größeren Täuschungen durchs Leben kämpften, erging es ganz anders. Statt für ihre Trickbetrügereien gefeiert zu werden, ächtete man sie und warnte vor ihren Methoden. So erzählt das Bamberger Liber Proscriptorum, zu Deutsch Buch der Gesetzlosen, von 1414 bis 1444 beispielsweise von einem Mann, der in Tücher gewickelte Reliquien von Heiligen wie St. Bartholomäus oder St. Barbara verkaufte. In Wahrheit steckten unter den Tüchern jedoch nur gewöhnliche Holzstücke. Im Spätmittelalter tauchten immer wieder solche Stadtbücher auf, die einerseits Straftaten dokumentierten und auf straffällige Bettler hinwiesen, andererseits vor betrügerischen Methoden warnten. Das Liber Vagatorum, das 1510 in Pforzheim erschien, befasste sich dann mit verschiedenen Bettlertypen und ihren betrügerischen Methoden. Es listet 41 Praktiken auf und entlarvt die Taktiken all derer, die sich mit Täuschung und Betrug über Wasser halten mussten: von falschen Pilgern über vermeintlich Schwangere bis hin zu vorgetäuschten Kranken.
Das Mittelalter hatte viele Menschen mit Missernten, Hungersnöten und der Schwarzen Pest zu Ausgestoßenen gemacht. Verdammt zu einem Leben als Vaganten versuchten sie, sich mit betrügerischen Bettelmethoden oder Geschäften ihr Überleben zu sichern. So brachte diese Epoche eine ganz eigene Riege von Trickbetrüger:innen hervor: Menschen, die sich ähnlich wie Till Eulenspiegel auf Kosten anderer bereicherten, um satt zu werden. Zwar wurden nicht alle Armen des Spätmittelalters zwangsläufig zu Betrüger:innen, doch die Täuschung bot ihnen einen Ausweg, der sich mal langwierig, mal schnell und einfach gestaltete. Während Täuschung und Betrug in der Figur des beliebten Nationalnarren als kultig und beliebt gelten, wurden Menschen mit ähnlichen Taktiken zur selben Zeit ausgestoßen und verdammt. Ähnlich ambivalent und willkürlich sollte das Urteil über Betrüger:innen bis in die Gegenwart hinein bleiben.