Lange bevor Energy Drinks, Kaffee oder Ritalin zum leistungssteigernden Repertoire einiger hoch motivierter Menschen gehörte, versuchte ein indigenes Volk im Amazonas seine Jagdausflüge mithilfe von Guaraná möglichst effizient zu gestalten. Die kleine rote Frucht verhalf ihnen zu mehr Konzentration, weniger Müdigkeit und nachlassendem Hunger – und fand bald auch ihren Weg nach Europa.
Die Luftfeuchtigkeit legt sich wie ein zweites Blätterkleid drückend über den Amazonas. Irgendwo zwischen dem Rio Tapajós und dem Rio Madeira ist eine Gruppe indigener Jäger seit mehr als 24 Stunden auf den Beinen. Bis der erste Europäer den tropischen Regenwald betreten, das Land für seins erklären und als solches ausbeuten wird, dauert es noch viele Jahrhunderte. Zwischen den riesigen Bäumen wimmelt es nur so von wilden Tieren, die es zu erlegen gilt. Doch der Bogen und das Blasrohr in den Händen der Jäger werden immer schwerer, die Konzentration lässt nach. Höchste Zeit für einen çapó, das koffeinhaltige Getränk des Sateré-Mawé Volks.
Einer der Männer holt ein keulenförmiges Etwas hervor. Mit der getrockneten Zunge eines Pirarucu-Fisches schabt er daran herum und vermischt das herabrieselnde Pulver mit Wasser. Bevor die Schale mit dem fertigen Getränk reihum gereicht wird, nimmt er selbst ein paar kräftige Schlucke. Als das Behältnis zu ihm zurückkommt, ist es leer. Es dauert keine Stunde und die Jäger sind wieder bei Kräften. Ihre Konzentration so scharf wie die Waffen in ihren Händen.
Guaraná – kräftiger und länger wirkend als Kaffee
Erst im 20. Jahrhundert sahen sich Wissenschaftler*innen die rote Frucht der Guaraná-Pflanze, die die Sateré-Mawé bei ihrer Jagd so tatkräftig unterstützte, genauer an. Sie stellten fest: Sie enthält bis zu sechsmal so viel Koffein wie die Kaffeebohne. Die stimulierende Substanz aktiviert die Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin und Kortisol – und wirkt dadurch anregend. Dank der vielen Gerbstoffe in Guaraná wird das Koffein jedoch langsamer als beim Kaffee aufgenommen. So hält die Wirkung länger an. Zudem dämpft die Substanz das Hungergefühl der Jäger, sodass sie auf ihren mehrtägigen Touren problemlos ausharren können.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts prägten Neurolog*innen schließlich einen Begriff für die Praxis des indigenen Volks: Neuroenhancement. Dabei handelt es sich um die Bemühung gesunder Menschen, ihre geistige Leistungsfähigkeit mithilfe psychoaktiver Substanzen zu steigern. Die Art des Bedürfnisses nach leistungssteigernden Mitteln hat sich zwar über die Jahrhunderte und je nach Zielgruppe verändert, doch bereits die Sateré-Mawé machten mit den Früchten der heimischen Pflanze genau das: Sie optimierten ihre kognitiven Fähigkeiten, um ihr ökonomisches Potenzial zu steigern.
Das belebende Auge des Amazonas
Die Sateré-Mawé bezeichnen die roten Früchte, die die Guaraná-Liane schmücken, liebevoll als warana – also als Augen der Götter oder Augen des Amazonas. Laut einer Legende des südamerikanischen Volkes erwuchs die Pflanze aus dem Auge eines ermordeten Kindes. Und tatsächlich erinnert die Frucht der Pflanze mit ihrem weißen Fleisch und schwarzen Samen an ein menschliches Auge. Neben der stimulierenden Wirkung nutzte das indigene Volk die Frucht schon damals auch für die Behandlung von Krankheiten wie Durchfall oder Fieber. Zudem spielt das gewonnene Pulver noch heute eine wichtige spirituelle Rolle und kommt bei vielen Riten in Form des Getränks çapó zum Einsatz.
Dazu werden die geernteten Guaraná-Samen zunächst getrocknet und gemahlen, um sie dann mit Wasser anzureichern. Wegen seines bitteren Geschmacks süßen einige das Getränk mit Honig. Für die Jagd bereiten die Mitglieder der Sateré-Mawé den sogenannten Bastão, eine Guaraná-Stange, zu. Hierfür wird das hergestellte Pulver ganz einfach mit Wasser und Maniokstärke zu einer Paste vermischt. Wenn diese zu einem keulenförmigen Bastão gehärtet ist, kann sie mithilfe einer getrockneten Fischzunge oder eines Steins jederzeit wieder zu Pulver zermahlen werden. So begleitet sie die Jäger während der Jagd als treuer Muntermacher.
Vom indigenen Gebräu des Mittelalters zum trendigen Energy Drink der Gegenwart
Der luxemburgische Jesuit João Felipe Bettendorff kam im 17. Jahrhundert in den Amazonas, um die indigenen Völker vor Ort zu missionieren. Auf seiner Reise traf er auf die Sateré-Mawé und erwähnte die Guaraná-Frucht erstmals schriftlich. So beschrieb er die Zubereitung eines Bastão, das das indigene Volk „so schätzt wie die Weißen das Gold“. Auch später sprachen portugiesische Kolonialisten von Guaraná als wertvollstes Gut der Sateré-Mawé, das auch als Zahlungsmittel diente.
So fand das Auge des Amazonas im Gewand einer roten Frucht im 19. Jahrhundert seinen Weg nach Europa. Hier erkannten schließlich Wissenschaftler*innen die medizinische Wirkung der psychotropen Substanz. Auch der leistungsfördernde Effekt der Frucht wurde bald entdeckt und im 21. Jahrhundert ist Guaraná buchstäblich in aller Munde – ob als Nahrungsergänzungsmittel in einem der zahlreichen stimulierenden Energy Drinks oder als belebendes Mundspray. Besonders in Brasilien zählen Guaraná-Getränke zu den beliebtesten Soft Drinks. In europäischen Ländern machen sie dem exzessiven Kaffee-Konsum dagegen vorerst keine Konkurrenz. Das mag an ihrer sanfteren Wirkung liegen – wo Kaffee am Morgen für den schnellen Koffein-Kick sorgt, entfaltet Guaraná seinen Effekt eher nach und nach. Zudem bietet das Aufbrühen des Kaffees am Morgen ein beständiges, entschleunigendes Ritual, das das Öffnen eines Energy oder Soft Drinks nicht befriedigend ersetzen kann.
Dennoch bestücken Guaraná-Getränke heute auch in Europa und den USA jeden größeren Supermarkt. Und die Sateré-Mawé profitieren vom globalen Hype: 2020 wurde ihnen als erstes indigenes Volk eine brasilianische Ursprungsbezeichnung verliehen. Sie ehrt die besondere Verbindung zwischen der roten Frucht und der Region der Sateré-Mawé. Im Gegensatz zu anderen Gegenden Brasiliens verkaufen sie vergleichsweise wenig. Doch einige Hersteller wissen die Qualität ihres Guaranás besonders zu schätzen und beziehen die Frucht daher lediglich von ihrem Volk. So schenkt das begehrte Auge des Amazonas den Sateré-Mawé noch heute eine gewisse finanzielle Autonomie.